Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

als die Mühle in Schnee und Eis begraben und fast unzugänglich war, da schien doch die Tante mit ihren Besorgnissen Recht zu behalten. Eines Abends wurde das Kind mitten unter seinen Spielsachen unruhig, schrie heftig und bekam in der Nacht starkes Fieber. Reißend nahm in den nächsten Tagen Kraft und Fülle ab, und als der treue Freund Margret's, der Doktor, über gefährliche Pfade voll Glatteis doch zur Mühle durchdrang, fand er schon das Gehirn leidend, die Gefahr bedeutend. Margret zitterte, den letzten und einzigen Zweck zu verlieren, für den sie ihr Leben noch ertrug; mit unerhörter Anstrengung und Pünktlichkeit schaffte sie Alles herbei, was der Arzt zweckdienlich fand; viele Wochen lang kam kein Schlaf in ihre Augen. Draußen im Wald stieg die Kälte und schauerliche Trostlosigkeit des Winters; drinnen sank die Hoffnung der Mutter von Tag zu Tag mehr. Keine Arznei gab dem Kinde Lebenskraft wieder; es war erschreckend hager und leichenhaft anzusehen, und ohne Bewußtsein, ohne Lächeln oder Weinen nahm es die zärtliche Pflege der Mutter hin. Sein Seelchen schien bereits gestorben vor dem Leibe.

So fanden wir Margret an jenem Morgen, als sie endlich, stumpf von Weinen und Jammer, matt von monatlanger Anstrengung und Schlaflosigkeit, Gebet und Pflege aufgab und an der Grenze des Verzweifelns angelangt, zerwühlt von den Erinnerungen verlornen Glücks, durch die Scheiben ihres Fensters in

als die Mühle in Schnee und Eis begraben und fast unzugänglich war, da schien doch die Tante mit ihren Besorgnissen Recht zu behalten. Eines Abends wurde das Kind mitten unter seinen Spielsachen unruhig, schrie heftig und bekam in der Nacht starkes Fieber. Reißend nahm in den nächsten Tagen Kraft und Fülle ab, und als der treue Freund Margret's, der Doktor, über gefährliche Pfade voll Glatteis doch zur Mühle durchdrang, fand er schon das Gehirn leidend, die Gefahr bedeutend. Margret zitterte, den letzten und einzigen Zweck zu verlieren, für den sie ihr Leben noch ertrug; mit unerhörter Anstrengung und Pünktlichkeit schaffte sie Alles herbei, was der Arzt zweckdienlich fand; viele Wochen lang kam kein Schlaf in ihre Augen. Draußen im Wald stieg die Kälte und schauerliche Trostlosigkeit des Winters; drinnen sank die Hoffnung der Mutter von Tag zu Tag mehr. Keine Arznei gab dem Kinde Lebenskraft wieder; es war erschreckend hager und leichenhaft anzusehen, und ohne Bewußtsein, ohne Lächeln oder Weinen nahm es die zärtliche Pflege der Mutter hin. Sein Seelchen schien bereits gestorben vor dem Leibe.

So fanden wir Margret an jenem Morgen, als sie endlich, stumpf von Weinen und Jammer, matt von monatlanger Anstrengung und Schlaflosigkeit, Gebet und Pflege aufgab und an der Grenze des Verzweifelns angelangt, zerwühlt von den Erinnerungen verlornen Glücks, durch die Scheiben ihres Fensters in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0049"/>
als die Mühle in Schnee     und Eis begraben und fast unzugänglich war, da schien doch die Tante mit ihren Besorgnissen     Recht zu behalten. Eines Abends wurde das Kind mitten unter seinen Spielsachen unruhig, schrie     heftig und bekam in der Nacht starkes Fieber. Reißend nahm in den nächsten Tagen Kraft und Fülle     ab, und als der treue Freund Margret's, der Doktor, über gefährliche Pfade voll Glatteis doch     zur Mühle durchdrang, fand er schon das Gehirn leidend, die Gefahr bedeutend. Margret zitterte,     den letzten und einzigen Zweck zu verlieren, für den sie ihr Leben noch ertrug; mit unerhörter     Anstrengung und Pünktlichkeit schaffte sie Alles herbei, was der Arzt zweckdienlich fand; viele     Wochen lang kam kein Schlaf in ihre Augen. Draußen im Wald stieg die Kälte und schauerliche     Trostlosigkeit des Winters; drinnen sank die Hoffnung der Mutter von Tag zu Tag mehr. Keine     Arznei gab dem Kinde Lebenskraft wieder; es war erschreckend hager und leichenhaft anzusehen,     und ohne Bewußtsein, ohne Lächeln oder Weinen nahm es die zärtliche Pflege der Mutter hin. Sein     Seelchen schien bereits gestorben vor dem Leibe.</p><lb/>
        <p>So fanden wir Margret an jenem Morgen, als sie endlich, stumpf von Weinen und Jammer, matt von     monatlanger Anstrengung und Schlaflosigkeit, Gebet und Pflege aufgab und an der Grenze des     Verzweifelns angelangt, zerwühlt von den Erinnerungen verlornen Glücks, durch die Scheiben ihres     Fensters in<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0049] als die Mühle in Schnee und Eis begraben und fast unzugänglich war, da schien doch die Tante mit ihren Besorgnissen Recht zu behalten. Eines Abends wurde das Kind mitten unter seinen Spielsachen unruhig, schrie heftig und bekam in der Nacht starkes Fieber. Reißend nahm in den nächsten Tagen Kraft und Fülle ab, und als der treue Freund Margret's, der Doktor, über gefährliche Pfade voll Glatteis doch zur Mühle durchdrang, fand er schon das Gehirn leidend, die Gefahr bedeutend. Margret zitterte, den letzten und einzigen Zweck zu verlieren, für den sie ihr Leben noch ertrug; mit unerhörter Anstrengung und Pünktlichkeit schaffte sie Alles herbei, was der Arzt zweckdienlich fand; viele Wochen lang kam kein Schlaf in ihre Augen. Draußen im Wald stieg die Kälte und schauerliche Trostlosigkeit des Winters; drinnen sank die Hoffnung der Mutter von Tag zu Tag mehr. Keine Arznei gab dem Kinde Lebenskraft wieder; es war erschreckend hager und leichenhaft anzusehen, und ohne Bewußtsein, ohne Lächeln oder Weinen nahm es die zärtliche Pflege der Mutter hin. Sein Seelchen schien bereits gestorben vor dem Leibe. So fanden wir Margret an jenem Morgen, als sie endlich, stumpf von Weinen und Jammer, matt von monatlanger Anstrengung und Schlaflosigkeit, Gebet und Pflege aufgab und an der Grenze des Verzweifelns angelangt, zerwühlt von den Erinnerungen verlornen Glücks, durch die Scheiben ihres Fensters in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:40:10Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:40:10Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910/49
Zitationshilfe: Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910/49>, abgerufen am 09.11.2024.