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Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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und hieß Ida gewissenhaft beurtheilen, ob die Kriegerchöre aus Jessonda nicht edler, lebhafter seien. Sie mußte es zugeben. Er fuhr fort und hieß sie die Gesänge der drei Knäbchen aus der Zauberflöte mit den verwandten Elfenchören aus Oberon vergleichen. Er führte ihr Kirchenmusiken von Mozart und Haydn mit anderen von Mendelssohn in bunter Reihe vorüber. Er gruppirte das Beste von Spontini neben Verwandtes von Gluck, und wenigstens mußte Ida gestehen, daß man es neben einander ertragen könne. Bis spät Abends ermüdeten die beiden Zuhörerinnen nicht vor dieser Musterreihe, die er aufrollte, und als er weg war, setzte sich Ida nochmals daran, aus dem Gedächtniß die schönsten Melodiken zu wiedreholen.

Ein verstockter Dilettant kann allenfalls sein Leben mit den Gedanken von sechs Componisten fristen. Doch sei es auch das Auserwählteste, die Seele Desjenigen, der stets in Tönen lebt und athmet, hat es endlich ausgenossen. Der Durst nach Neuem, Unerhörtem wird rege, und Den, der sich an dem Besten seines Faches gebildet hat, laßt nur selbst dafür sorgen, aus dem Neuen das Falsche, Alltägliche auszuscheiden. Ihn wird nur das Edle reizen, das sich würdig an das ihm vorangegangene Große anschließt.

Ida's Verstand war zu klar, ihre Seele dem Schönen zu weit geöffnet, um sich nicht bald von dem erfahrneren Künstler überzeugen zu lassen, daß der Geist der Tonkunst sich nicht auf einige wenige Häupter

und hieß Ida gewissenhaft beurtheilen, ob die Kriegerchöre aus Jessonda nicht edler, lebhafter seien. Sie mußte es zugeben. Er fuhr fort und hieß sie die Gesänge der drei Knäbchen aus der Zauberflöte mit den verwandten Elfenchören aus Oberon vergleichen. Er führte ihr Kirchenmusiken von Mozart und Haydn mit anderen von Mendelssohn in bunter Reihe vorüber. Er gruppirte das Beste von Spontini neben Verwandtes von Gluck, und wenigstens mußte Ida gestehen, daß man es neben einander ertragen könne. Bis spät Abends ermüdeten die beiden Zuhörerinnen nicht vor dieser Musterreihe, die er aufrollte, und als er weg war, setzte sich Ida nochmals daran, aus dem Gedächtniß die schönsten Melodiken zu wiedreholen.

Ein verstockter Dilettant kann allenfalls sein Leben mit den Gedanken von sechs Componisten fristen. Doch sei es auch das Auserwählteste, die Seele Desjenigen, der stets in Tönen lebt und athmet, hat es endlich ausgenossen. Der Durst nach Neuem, Unerhörtem wird rege, und Den, der sich an dem Besten seines Faches gebildet hat, laßt nur selbst dafür sorgen, aus dem Neuen das Falsche, Alltägliche auszuscheiden. Ihn wird nur das Edle reizen, das sich würdig an das ihm vorangegangene Große anschließt.

Ida's Verstand war zu klar, ihre Seele dem Schönen zu weit geöffnet, um sich nicht bald von dem erfahrneren Künstler überzeugen zu lassen, daß der Geist der Tonkunst sich nicht auf einige wenige Häupter

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Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/58>, abgerufen am 14.05.2024.