Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

er nicht dem Laien auf bloß technischem Wege sein Fach begreiflich macht, wie jene, sondern weil ihm bei seiner allgemeinen Bildung tausend Analogieen zu Gebote stehen, um Jeden da zu fassen, wo die lichte Stelle seiner Begriffsfähigkeit sich aufthut. Wüßten Sie zum Beispiel so viel vom classischen Alterthum, als er, so könnten Sie besser Ihren Gluck vor den Laien in die rechte Beleuchtung stellen. Kein gebildeter Mann, der den Sophokles gelesen hat, wird noch die Schwäche für niedrige Opernmusik festhalten, wenn Sie ihm eine eben so ewige und wahre Dramatik in der Tonkunst vorführen, als die griechische war.

Bei einer Ausstellung, wo die Malerin entzückt vor einem trefflich componirten Bilde älterer Zeit stehen blieb, welches Ida wegen seiner nachgedunkelten Färbung langweilig und düster vorkam, und dem sie einen Edelknaben nach der früheren Manier der Düsseldorfer Schule bei Weitem vorzog, neckte die Erstere sie: Und Sie wollen es den Musikalisch-Unwissenden übelnehmen, daß sie lieber Donizetti, als Sebastian Bach hören! Hier haben Sie den Geist Beider, wie er in Farben sich offenbaren würde.

Ein Jahr dieser Umgebung reichte hin, den lebhaftesten Trieb zum Lernen in Ida aufzustacheln. Sie machte sich's zur Pflicht, nicht eine Stunde mehr dem Erwerb zu widmen, als sie zur Bestreitung der nächsten Bedürfnisse mußte. Alle freie Zeit benützte sie redlich zu ihrer Fortbildung. Sie trat in die geheiligte

er nicht dem Laien auf bloß technischem Wege sein Fach begreiflich macht, wie jene, sondern weil ihm bei seiner allgemeinen Bildung tausend Analogieen zu Gebote stehen, um Jeden da zu fassen, wo die lichte Stelle seiner Begriffsfähigkeit sich aufthut. Wüßten Sie zum Beispiel so viel vom classischen Alterthum, als er, so könnten Sie besser Ihren Gluck vor den Laien in die rechte Beleuchtung stellen. Kein gebildeter Mann, der den Sophokles gelesen hat, wird noch die Schwäche für niedrige Opernmusik festhalten, wenn Sie ihm eine eben so ewige und wahre Dramatik in der Tonkunst vorführen, als die griechische war.

Bei einer Ausstellung, wo die Malerin entzückt vor einem trefflich componirten Bilde älterer Zeit stehen blieb, welches Ida wegen seiner nachgedunkelten Färbung langweilig und düster vorkam, und dem sie einen Edelknaben nach der früheren Manier der Düsseldorfer Schule bei Weitem vorzog, neckte die Erstere sie: Und Sie wollen es den Musikalisch-Unwissenden übelnehmen, daß sie lieber Donizetti, als Sebastian Bach hören! Hier haben Sie den Geist Beider, wie er in Farben sich offenbaren würde.

Ein Jahr dieser Umgebung reichte hin, den lebhaftesten Trieb zum Lernen in Ida aufzustacheln. Sie machte sich's zur Pflicht, nicht eine Stunde mehr dem Erwerb zu widmen, als sie zur Bestreitung der nächsten Bedürfnisse mußte. Alle freie Zeit benützte sie redlich zu ihrer Fortbildung. Sie trat in die geheiligte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0061"/>
er nicht dem Laien auf bloß technischem Wege sein Fach begreiflich macht,      wie jene, sondern weil ihm bei seiner allgemeinen Bildung tausend Analogieen zu Gebote stehen,      um Jeden da zu fassen, wo die lichte Stelle seiner Begriffsfähigkeit sich aufthut. Wüßten Sie      zum Beispiel so viel vom classischen Alterthum, als er, so könnten Sie besser Ihren Gluck vor      den Laien in die rechte Beleuchtung stellen. Kein gebildeter Mann, der den Sophokles gelesen      hat, wird noch die Schwäche für niedrige Opernmusik festhalten, wenn Sie ihm eine eben so ewige      und wahre Dramatik in der Tonkunst vorführen, als die griechische war.</p><lb/>
        <p>Bei einer Ausstellung, wo die Malerin entzückt vor einem trefflich componirten Bilde älterer      Zeit stehen blieb, welches Ida wegen seiner nachgedunkelten Färbung langweilig und düster      vorkam, und dem sie einen Edelknaben nach der früheren Manier der Düsseldorfer Schule bei      Weitem vorzog, neckte die Erstere sie: Und Sie wollen es den Musikalisch-Unwissenden      übelnehmen, daß sie lieber Donizetti, als Sebastian Bach hören! Hier haben Sie den Geist      Beider, wie er in Farben sich offenbaren würde.</p><lb/>
        <p>Ein Jahr dieser Umgebung reichte hin, den lebhaftesten Trieb zum Lernen in Ida aufzustacheln.      Sie machte sich's zur Pflicht, nicht eine Stunde mehr dem Erwerb zu widmen, als sie zur      Bestreitung der nächsten Bedürfnisse mußte. Alle freie Zeit benützte sie redlich zu ihrer      Fortbildung. Sie trat in die geheiligte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0061] er nicht dem Laien auf bloß technischem Wege sein Fach begreiflich macht, wie jene, sondern weil ihm bei seiner allgemeinen Bildung tausend Analogieen zu Gebote stehen, um Jeden da zu fassen, wo die lichte Stelle seiner Begriffsfähigkeit sich aufthut. Wüßten Sie zum Beispiel so viel vom classischen Alterthum, als er, so könnten Sie besser Ihren Gluck vor den Laien in die rechte Beleuchtung stellen. Kein gebildeter Mann, der den Sophokles gelesen hat, wird noch die Schwäche für niedrige Opernmusik festhalten, wenn Sie ihm eine eben so ewige und wahre Dramatik in der Tonkunst vorführen, als die griechische war. Bei einer Ausstellung, wo die Malerin entzückt vor einem trefflich componirten Bilde älterer Zeit stehen blieb, welches Ida wegen seiner nachgedunkelten Färbung langweilig und düster vorkam, und dem sie einen Edelknaben nach der früheren Manier der Düsseldorfer Schule bei Weitem vorzog, neckte die Erstere sie: Und Sie wollen es den Musikalisch-Unwissenden übelnehmen, daß sie lieber Donizetti, als Sebastian Bach hören! Hier haben Sie den Geist Beider, wie er in Farben sich offenbaren würde. Ein Jahr dieser Umgebung reichte hin, den lebhaftesten Trieb zum Lernen in Ida aufzustacheln. Sie machte sich's zur Pflicht, nicht eine Stunde mehr dem Erwerb zu widmen, als sie zur Bestreitung der nächsten Bedürfnisse mußte. Alle freie Zeit benützte sie redlich zu ihrer Fortbildung. Sie trat in die geheiligte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/61
Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/61>, abgerufen am 27.11.2024.