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Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Atmosphäre der großen vaterländischen Dichter ein, und mit dem klaren Unterscheiden der Kunstformen auf dem Gebiete des Wortes ward ihr zugleich die Beurtheilung und Erkenntniß musikalischer Lyrik, des Epischen in der Symphonie aufgeschlossen. Sie öffnete den Farben und Formen ihren Sinn, und wie sich ihre Seele an der Geschichte der Völker erweiterte, so blühte ihrer Phantasie an deren Sagen ein neues Leben auf.

Sohling ward nun eben so lebhaft von ihrem Gedankenaustausch angeregt und erhielt durch ihre Auffassung neue Anschauungen, wie sie einst von ihm. Sie ward der Umgang, der ihn am meisten anzog, ohne daß sein Herz die mindeste Leidenschaft für sie empfunden hätte. Er kam bei ihr zu gar keiner träumerischen Stimmung, die dem Verlieben so günstig ist. Ihr Geist war zu beweglich, als daß ein junger Mann aus Langeweile nur einen Augenblick dem Gedanken nachgehangen hätte: Du bist hier am späten Abend mit einem hübschen Mädchen allein.

Oft kam die Dämmerung, ohne daß sie es bemerkten, und statt der Lampe schienen Mond und Sterne herein. Die blühenden Linden auf dem Platze draußen sandten ihren Duft hinauf, und der Springbrunnen plätscherte gar anmuthig. Dennoch fand keine zärtliche Hinneigung Raum, sich zwischen beiden Herzen eine Brücke zu bauen. Es kam kein Moment des Schweigens, sie hatten immer noch unerschöpflichen Gesprächsstoff, wenn sie schieden. Die Gewohnheit des Beisammen-

Atmosphäre der großen vaterländischen Dichter ein, und mit dem klaren Unterscheiden der Kunstformen auf dem Gebiete des Wortes ward ihr zugleich die Beurtheilung und Erkenntniß musikalischer Lyrik, des Epischen in der Symphonie aufgeschlossen. Sie öffnete den Farben und Formen ihren Sinn, und wie sich ihre Seele an der Geschichte der Völker erweiterte, so blühte ihrer Phantasie an deren Sagen ein neues Leben auf.

Sohling ward nun eben so lebhaft von ihrem Gedankenaustausch angeregt und erhielt durch ihre Auffassung neue Anschauungen, wie sie einst von ihm. Sie ward der Umgang, der ihn am meisten anzog, ohne daß sein Herz die mindeste Leidenschaft für sie empfunden hätte. Er kam bei ihr zu gar keiner träumerischen Stimmung, die dem Verlieben so günstig ist. Ihr Geist war zu beweglich, als daß ein junger Mann aus Langeweile nur einen Augenblick dem Gedanken nachgehangen hätte: Du bist hier am späten Abend mit einem hübschen Mädchen allein.

Oft kam die Dämmerung, ohne daß sie es bemerkten, und statt der Lampe schienen Mond und Sterne herein. Die blühenden Linden auf dem Platze draußen sandten ihren Duft hinauf, und der Springbrunnen plätscherte gar anmuthig. Dennoch fand keine zärtliche Hinneigung Raum, sich zwischen beiden Herzen eine Brücke zu bauen. Es kam kein Moment des Schweigens, sie hatten immer noch unerschöpflichen Gesprächsstoff, wenn sie schieden. Die Gewohnheit des Beisammen-

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[0062] Atmosphäre der großen vaterländischen Dichter ein, und mit dem klaren Unterscheiden der Kunstformen auf dem Gebiete des Wortes ward ihr zugleich die Beurtheilung und Erkenntniß musikalischer Lyrik, des Epischen in der Symphonie aufgeschlossen. Sie öffnete den Farben und Formen ihren Sinn, und wie sich ihre Seele an der Geschichte der Völker erweiterte, so blühte ihrer Phantasie an deren Sagen ein neues Leben auf. Sohling ward nun eben so lebhaft von ihrem Gedankenaustausch angeregt und erhielt durch ihre Auffassung neue Anschauungen, wie sie einst von ihm. Sie ward der Umgang, der ihn am meisten anzog, ohne daß sein Herz die mindeste Leidenschaft für sie empfunden hätte. Er kam bei ihr zu gar keiner träumerischen Stimmung, die dem Verlieben so günstig ist. Ihr Geist war zu beweglich, als daß ein junger Mann aus Langeweile nur einen Augenblick dem Gedanken nachgehangen hätte: Du bist hier am späten Abend mit einem hübschen Mädchen allein. Oft kam die Dämmerung, ohne daß sie es bemerkten, und statt der Lampe schienen Mond und Sterne herein. Die blühenden Linden auf dem Platze draußen sandten ihren Duft hinauf, und der Springbrunnen plätscherte gar anmuthig. Dennoch fand keine zärtliche Hinneigung Raum, sich zwischen beiden Herzen eine Brücke zu bauen. Es kam kein Moment des Schweigens, sie hatten immer noch unerschöpflichen Gesprächsstoff, wenn sie schieden. Die Gewohnheit des Beisammen-

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

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Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/62>, abgerufen am 23.11.2024.