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Kirchhoff, Auguste: Warum muß der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht sich zum allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht bekennen? Bremen, 1912.

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Unterrichtswesen. Wie viel Frauen haben denn im Verhältnis zu den
Männern heute ihr Abiturium gemacht und auf Universitäten eine dem
Manne gleichwertige Bildung sich erworben? - Wir sehen also auch
hier eine starke Verschiebung zu ungunsten der Frau gegenüber dem
Manne sowohl, als zu ungunsten der Frau der unteren Schichten gegen-
über ihrer glücklicher situierten Schwester.

Dasselbe gilt von unserm Bremer Wahlrecht. Den 75 000
Reichstagswählern in Bremen stehen nur 20 000 Wähler zur Bürgerschaft
gegenüber. Unser hiesiges Wahlsystem ist ein allgemeines, ungleiches,
geheimes und direktes; es ist gebunden teils an den Stand, Besitz und
Beruf, teils an den Wohnort. Unter diesem System würde die Frau
in der ersten Klasse nur geringen, in der zweiten und dritten Klasse
gar keinen Einfluß haben. Die überwiegende Mehrheit würde der
vierten Klasse zugeteilt werden.

So könnte ich Jhnen an all den Abstufungen des beschränkten
ungleichen Wahlrechts immer dasselbe nachweisen: einmal die starke
Benachteiligung der Frau im Verhältnis zum Mann, zweitens
die der unteren Klassen im Verhältnis zu den besitzenden
.

Und nun frage ich: Was nützt der Frau ein an Besitz und
Bildung geknüpftes Wahlrecht, solange die wirtschaftliche Lage der
Frau eine so viel schlechtere ist als die des Mannes?

Was nützt es den Ehefrauen, deren selbständiges Einkommen in
den Steuerlisten - und die Steuerliste ist die Basis der Wählerliste -
immer dem Mann als Einkommen angerechnet wird?! Was nützt es
den erwerbstätigen Frauen, deren Hauptkontingent die Lohnarbeiterinnen
bilden? Was den Haustöchtern, die ohne selbständiges Einkommen mit
den Eltern zusammenleben? Was den Witwen hoher Staatsbeamten,
die ohne eigenes Vermögen nur auf ihre geringe Witwenpension an-
gewiesen sind?

Jch greife diese beiden letzten Typen mit Absicht heraus, um
Jhnen zu zeigen, daß auch konservative Frauen schon aus rein egoistischen
Gründen gegen jedes beschränkte Wahlrecht Front machen müßten, wenn
sie sich einen etwas tiefern Einblick in unsere politischen Verhältnisse
verschaffen würden. - Allen diesen Frauen ist doch wahrlich nicht damit
gedient, am Wahltag einenStimmzettel ohne praktische Bedeutung
abzugeben! Es gibt aber keinen andern Weg, allen Frauen
wirkliche Staatsbürgerrechte zu sichern, als die Ausdehnung
des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts
auch auf die Frauen. Jede fünfundzwanzigjährige Frau ohne
Unterschied des Standes, der Bildung, des Besitzes erhielte

Unterrichtswesen. Wie viel Frauen haben denn im Verhältnis zu den
Männern heute ihr Abiturium gemacht und auf Universitäten eine dem
Manne gleichwertige Bildung sich erworben? – Wir sehen also auch
hier eine starke Verschiebung zu ungunsten der Frau gegenüber dem
Manne sowohl, als zu ungunsten der Frau der unteren Schichten gegen-
über ihrer glücklicher situierten Schwester.

Dasselbe gilt von unserm Bremer Wahlrecht. Den 75 000
Reichstagswählern in Bremen stehen nur 20 000 Wähler zur Bürgerschaft
gegenüber. Unser hiesiges Wahlsystem ist ein allgemeines, ungleiches,
geheimes und direktes; es ist gebunden teils an den Stand, Besitz und
Beruf, teils an den Wohnort. Unter diesem System würde die Frau
in der ersten Klasse nur geringen, in der zweiten und dritten Klasse
gar keinen Einfluß haben. Die überwiegende Mehrheit würde der
vierten Klasse zugeteilt werden.

So könnte ich Jhnen an all den Abstufungen des beschränkten
ungleichen Wahlrechts immer dasselbe nachweisen: einmal die starke
Benachteiligung der Frau im Verhältnis zum Mann, zweitens
die der unteren Klassen im Verhältnis zu den besitzenden
.

Und nun frage ich: Was nützt der Frau ein an Besitz und
Bildung geknüpftes Wahlrecht, solange die wirtschaftliche Lage der
Frau eine so viel schlechtere ist als die des Mannes?

Was nützt es den Ehefrauen, deren selbständiges Einkommen in
den Steuerlisten – und die Steuerliste ist die Basis der Wählerliste –
immer dem Mann als Einkommen angerechnet wird?! Was nützt es
den erwerbstätigen Frauen, deren Hauptkontingent die Lohnarbeiterinnen
bilden? Was den Haustöchtern, die ohne selbständiges Einkommen mit
den Eltern zusammenleben? Was den Witwen hoher Staatsbeamten,
die ohne eigenes Vermögen nur auf ihre geringe Witwenpension an-
gewiesen sind?

Jch greife diese beiden letzten Typen mit Absicht heraus, um
Jhnen zu zeigen, daß auch konservative Frauen schon aus rein egoistischen
Gründen gegen jedes beschränkte Wahlrecht Front machen müßten, wenn
sie sich einen etwas tiefern Einblick in unsere politischen Verhältnisse
verschaffen würden. – Allen diesen Frauen ist doch wahrlich nicht damit
gedient, am Wahltag einenStimmzettel ohne praktische Bedeutung
abzugeben! Es gibt aber keinen andern Weg, allen Frauen
wirkliche Staatsbürgerrechte zu sichern, als die Ausdehnung
des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts
auch auf die Frauen. Jede fünfundzwanzigjährige Frau ohne
Unterschied des Standes, der Bildung, des Besitzes erhielte

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[20/0020] Unterrichtswesen. Wie viel Frauen haben denn im Verhältnis zu den Männern heute ihr Abiturium gemacht und auf Universitäten eine dem Manne gleichwertige Bildung sich erworben? – Wir sehen also auch hier eine starke Verschiebung zu ungunsten der Frau gegenüber dem Manne sowohl, als zu ungunsten der Frau der unteren Schichten gegen- über ihrer glücklicher situierten Schwester. Dasselbe gilt von unserm Bremer Wahlrecht. Den 75 000 Reichstagswählern in Bremen stehen nur 20 000 Wähler zur Bürgerschaft gegenüber. Unser hiesiges Wahlsystem ist ein allgemeines, ungleiches, geheimes und direktes; es ist gebunden teils an den Stand, Besitz und Beruf, teils an den Wohnort. Unter diesem System würde die Frau in der ersten Klasse nur geringen, in der zweiten und dritten Klasse gar keinen Einfluß haben. Die überwiegende Mehrheit würde der vierten Klasse zugeteilt werden. So könnte ich Jhnen an all den Abstufungen des beschränkten ungleichen Wahlrechts immer dasselbe nachweisen: einmal die starke Benachteiligung der Frau im Verhältnis zum Mann, zweitens die der unteren Klassen im Verhältnis zu den besitzenden. Und nun frage ich: Was nützt der Frau ein an Besitz und Bildung geknüpftes Wahlrecht, solange die wirtschaftliche Lage der Frau eine so viel schlechtere ist als die des Mannes? Was nützt es den Ehefrauen, deren selbständiges Einkommen in den Steuerlisten – und die Steuerliste ist die Basis der Wählerliste – immer dem Mann als Einkommen angerechnet wird?! Was nützt es den erwerbstätigen Frauen, deren Hauptkontingent die Lohnarbeiterinnen bilden? Was den Haustöchtern, die ohne selbständiges Einkommen mit den Eltern zusammenleben? Was den Witwen hoher Staatsbeamten, die ohne eigenes Vermögen nur auf ihre geringe Witwenpension an- gewiesen sind? Jch greife diese beiden letzten Typen mit Absicht heraus, um Jhnen zu zeigen, daß auch konservative Frauen schon aus rein egoistischen Gründen gegen jedes beschränkte Wahlrecht Front machen müßten, wenn sie sich einen etwas tiefern Einblick in unsere politischen Verhältnisse verschaffen würden. – Allen diesen Frauen ist doch wahrlich nicht damit gedient, am Wahltag einenStimmzettel ohne praktische Bedeutung abzugeben! Es gibt aber keinen andern Weg, allen Frauen wirkliche Staatsbürgerrechte zu sichern, als die Ausdehnung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts auch auf die Frauen. Jede fünfundzwanzigjährige Frau ohne Unterschied des Standes, der Bildung, des Besitzes erhielte

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Anna Pfundt: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2014-07-16T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2014-07-16T11:00:00Z)

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Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




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Zitationshilfe: Kirchhoff, Auguste: Warum muß der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht sich zum allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht bekennen? Bremen, 1912, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kirchhoff_frauenstimmrecht_1912/20>, abgerufen am 24.11.2024.