Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.pkl_132.001 §. 195. Die im Munde des Volks lebenden, durch pkl_132.019 pkl_132.001 §. 195. Die im Munde des Volks lebenden, durch pkl_132.019 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0158" n="132"/><lb n="pkl_132.001"/> Mährchen zu hören gäbe, manche, an denen die Volkssagen <lb n="pkl_132.002"/> bloß dünne und sparsam gesäet zu sein pflegen. <lb n="pkl_132.003"/> — Die <hi rendition="#g">Mährchen</hi> also sind theils durch ihre <hi rendition="#g">äußere <lb n="pkl_132.004"/> Verbreitung,</hi> theils durch ihr <hi rendition="#g">inneres Wesen</hi> <lb n="pkl_132.005"/> dazu bestimmt, den <hi rendition="#g">reinen Gedanken einer kindlichen <lb n="pkl_132.006"/> Weltbetrachtung zu fassen;</hi> sie nähren <lb n="pkl_132.007"/> unmittelbar, wie die Milch, mild und lieblich, oder der <lb n="pkl_132.008"/> Honig, süß und sättigend, ohne irdische Schwere; dahingegen <lb n="pkl_132.009"/> die <hi rendition="#g">Sagen</hi> schon zu einer stärkern Speise <lb n="pkl_132.010"/> dienen, <hi rendition="#g">eine einfachere,</hi> aber desto <hi rendition="#g">entschiedenere <lb n="pkl_132.011"/> Farbe tragen,</hi> und <hi rendition="#g">mehr Ernst und Nachdenken <lb n="pkl_132.012"/> fordern.</hi> Ueber den Vorzug beider zu streiten, <lb n="pkl_132.013"/> wäre ungeschickt, auch soll durch diese Darlegung ihrer <lb n="pkl_132.014"/> Verschiedenheit weder ihr Gemeinschaftliches übersehen, <lb n="pkl_132.015"/> noch geleugnet werden, daß sie in unendlichen Mischungen <lb n="pkl_132.016"/> und Wendungen in einander greifend, sich mehr <lb n="pkl_132.017"/> oder weniger ähnlich werden.“</p> <lb n="pkl_132.018"/> <p> §. 195. Die im Munde des Volks lebenden, durch <lb n="pkl_132.019"/> Volkspoesie geschaffenen Mährchen (die <hi rendition="#g">Volksmährchen</hi> <lb n="pkl_132.020"/> im engern Sinne) und Sagen sind besonders <lb n="pkl_132.021"/> durch die <hi rendition="#g">Gebrüder Jakob</hi> und <hi rendition="#g">Wilhelm Grimm</hi> <lb n="pkl_132.022"/> gesammelt worden. Durch diese Sammlungen ist dem <lb n="pkl_132.023"/> deutschen Vaterlande ein Dienst geleistet, den es nicht <lb n="pkl_132.024"/> genug anerkennen, für den es nicht genug danken kann. <lb n="pkl_132.025"/> Nicht nur ist uns und der Nachwelt damit ein Schatz <lb n="pkl_132.026"/> der herrlichsten Poesie gesichert: die „<hi rendition="#g">Kinder-</hi> und <lb n="pkl_132.027"/> <hi rendition="#g">Hausmährchen,</hi>“ die „<hi rendition="#g">deutschen Sagen,</hi>“ sie <lb n="pkl_132.028"/> sind uns überdieß zugleich ein Siegel und ein Spiegel. <lb n="pkl_132.029"/> Ein Siegel — dafür, daß wir ein poetisches Volk sind, <lb n="pkl_132.030"/> das auf seinen eignen Füßen wohl stehen kann, dem <lb n="pkl_132.031"/> nicht Noth ist, von der Fremde zu borgen und in der </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [132/0158]
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Mährchen zu hören gäbe, manche, an denen die Volkssagen pkl_132.002
bloß dünne und sparsam gesäet zu sein pflegen. pkl_132.003
— Die Mährchen also sind theils durch ihre äußere pkl_132.004
Verbreitung, theils durch ihr inneres Wesen pkl_132.005
dazu bestimmt, den reinen Gedanken einer kindlichen pkl_132.006
Weltbetrachtung zu fassen; sie nähren pkl_132.007
unmittelbar, wie die Milch, mild und lieblich, oder der pkl_132.008
Honig, süß und sättigend, ohne irdische Schwere; dahingegen pkl_132.009
die Sagen schon zu einer stärkern Speise pkl_132.010
dienen, eine einfachere, aber desto entschiedenere pkl_132.011
Farbe tragen, und mehr Ernst und Nachdenken pkl_132.012
fordern. Ueber den Vorzug beider zu streiten, pkl_132.013
wäre ungeschickt, auch soll durch diese Darlegung ihrer pkl_132.014
Verschiedenheit weder ihr Gemeinschaftliches übersehen, pkl_132.015
noch geleugnet werden, daß sie in unendlichen Mischungen pkl_132.016
und Wendungen in einander greifend, sich mehr pkl_132.017
oder weniger ähnlich werden.“
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§. 195. Die im Munde des Volks lebenden, durch pkl_132.019
Volkspoesie geschaffenen Mährchen (die Volksmährchen pkl_132.020
im engern Sinne) und Sagen sind besonders pkl_132.021
durch die Gebrüder Jakob und Wilhelm Grimm pkl_132.022
gesammelt worden. Durch diese Sammlungen ist dem pkl_132.023
deutschen Vaterlande ein Dienst geleistet, den es nicht pkl_132.024
genug anerkennen, für den es nicht genug danken kann. pkl_132.025
Nicht nur ist uns und der Nachwelt damit ein Schatz pkl_132.026
der herrlichsten Poesie gesichert: die „Kinder- und pkl_132.027
Hausmährchen,“ die „deutschen Sagen,“ sie pkl_132.028
sind uns überdieß zugleich ein Siegel und ein Spiegel. pkl_132.029
Ein Siegel — dafür, daß wir ein poetisches Volk sind, pkl_132.030
das auf seinen eignen Füßen wohl stehen kann, dem pkl_132.031
nicht Noth ist, von der Fremde zu borgen und in der
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