Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite
pkl_131.001

§. 194. *) "Es wird dem Menschen von Heimathswegen pkl_131.002
ein guter Engel beigegeben, der ihn, wann pkl_131.003
er in's Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt pkl_131.004
eines Mitwandernden begleitet; wer nicht ahnt, was pkl_131.005
ihm Gutes dadurch widerfährt, der mag es fühlen, pkl_131.006
wenn er die Gränze des Vaterlands überschreitet, wo pkl_131.007
ihn jener verläßt. Diese wohlthätige Begleitung ist das pkl_131.008
unerschöpfliche Gut der Mährchen, Sagen und pkl_131.009
Geschichte, welche neben einander stehen und uns pkl_131.010
nacheinander die Vorzeit als einen frischen und belebenden pkl_131.011
Geist nahe zu bringen streben. Jedes hat seinen pkl_131.012
eignen Kreis. Das Mährchen ist poetischer, die Sage pkl_131.013
historischer; jenes stehet beinahe nur in sich selber pkl_131.014
fest,
in seiner angebornen Blüthe und Vollendung; pkl_131.015
die Sage, von einer geringern Mannichfaltigkeit der pkl_131.016
Farbe, hat noch das Besondere, daß sie an etwas Bekanntem pkl_131.017
und Bewußtem hafte, an einem Ort pkl_131.018
oder einem durch die Geschichte gesicherten Namen. pkl_131.019
Aus dieser ihrer Gebundenheit folgt, daß sie nicht, pkl_131.020
gleich dem Mährchen überall zu Hause sein könne; pkl_131.021
sondern irgend eine Bedingung voraussetze, ohne welche pkl_131.022
sie bald gar nicht da, bald nur unvollkommener vorhanden pkl_131.023
sein würde. Kaum ein Flecken wird sich in pkl_131.024
ganz Deutschland finden, wo es nicht ausführliche

*) pkl_131.025
Anmerkung. Die populäre Bedeutsamkeit der Sage pkl_131.026
und des Mährchens bestimmt uns, zur näheren Charakterisirung pkl_131.027
derselben hier das Wesentlichste dessen folgen zu pkl_131.028
lassen, was die Gebrüder Grimm darüber (in der pkl_131.029
Vorrede zu den deutschen Sagen) aussprechen. Man wird pkl_131.030
es uns nicht verargen, wenn wir solcher Männer Worte pkl_131.031
so wiedergeben, wie sie geschrieben wurden.
pkl_131.001

§. 194. *) „Es wird dem Menschen von Heimathswegen pkl_131.002
ein guter Engel beigegeben, der ihn, wann pkl_131.003
er in's Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt pkl_131.004
eines Mitwandernden begleitet; wer nicht ahnt, was pkl_131.005
ihm Gutes dadurch widerfährt, der mag es fühlen, pkl_131.006
wenn er die Gränze des Vaterlands überschreitet, wo pkl_131.007
ihn jener verläßt. Diese wohlthätige Begleitung ist das pkl_131.008
unerschöpfliche Gut der Mährchen, Sagen und pkl_131.009
Geschichte, welche neben einander stehen und uns pkl_131.010
nacheinander die Vorzeit als einen frischen und belebenden pkl_131.011
Geist nahe zu bringen streben. Jedes hat seinen pkl_131.012
eignen Kreis. Das Mährchen ist poetischer, die Sage pkl_131.013
historischer; jenes stehet beinahe nur in sich selber pkl_131.014
fest,
in seiner angebornen Blüthe und Vollendung; pkl_131.015
die Sage, von einer geringern Mannichfaltigkeit der pkl_131.016
Farbe, hat noch das Besondere, daß sie an etwas Bekanntem pkl_131.017
und Bewußtem hafte, an einem Ort pkl_131.018
oder einem durch die Geschichte gesicherten Namen. pkl_131.019
Aus dieser ihrer Gebundenheit folgt, daß sie nicht, pkl_131.020
gleich dem Mährchen überall zu Hause sein könne; pkl_131.021
sondern irgend eine Bedingung voraussetze, ohne welche pkl_131.022
sie bald gar nicht da, bald nur unvollkommener vorhanden pkl_131.023
sein würde. Kaum ein Flecken wird sich in pkl_131.024
ganz Deutschland finden, wo es nicht ausführliche

*) pkl_131.025
Anmerkung. Die populäre Bedeutsamkeit der Sage pkl_131.026
und des Mährchens bestimmt uns, zur näheren Charakterisirung pkl_131.027
derselben hier das Wesentlichste dessen folgen zu pkl_131.028
lassen, was die Gebrüder Grimm darüber (in der pkl_131.029
Vorrede zu den deutschen Sagen) aussprechen. Man wird pkl_131.030
es uns nicht verargen, wenn wir solcher Männer Worte pkl_131.031
so wiedergeben, wie sie geschrieben wurden.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0157" n="131"/>
              <lb n="pkl_131.001"/>
              <p>  §. 194. <note xml:id="PKL_131_1" place="foot" n="*)"><lb n="pkl_131.025"/><hi rendition="#g">Anmerkung.</hi> Die populäre Bedeutsamkeit der Sage <lb n="pkl_131.026"/>
und des Mährchens bestimmt uns, zur näheren Charakterisirung <lb n="pkl_131.027"/>
derselben hier das Wesentlichste dessen folgen zu <lb n="pkl_131.028"/>
lassen, was die <hi rendition="#g">Gebrüder Grimm</hi> darüber (in der <lb n="pkl_131.029"/>
Vorrede zu den deutschen Sagen) aussprechen. Man wird <lb n="pkl_131.030"/>
es uns nicht verargen, wenn wir solcher Männer Worte <lb n="pkl_131.031"/>
so wiedergeben, wie sie geschrieben wurden.</note> &#x201E;Es wird dem Menschen von Heimathswegen <lb n="pkl_131.002"/>
ein guter Engel beigegeben, der ihn, wann <lb n="pkl_131.003"/>
er in's Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt <lb n="pkl_131.004"/>
eines Mitwandernden begleitet; wer nicht ahnt, was <lb n="pkl_131.005"/>
ihm Gutes dadurch widerfährt, der mag es fühlen, <lb n="pkl_131.006"/>
wenn er die Gränze des Vaterlands überschreitet, wo <lb n="pkl_131.007"/>
ihn jener verläßt. Diese wohlthätige Begleitung ist das <lb n="pkl_131.008"/>
unerschöpfliche Gut der <hi rendition="#g">Mährchen, Sagen</hi> und <lb n="pkl_131.009"/> <hi rendition="#g">Geschichte,</hi> welche neben einander stehen und uns <lb n="pkl_131.010"/>
nacheinander die Vorzeit als einen frischen und belebenden <lb n="pkl_131.011"/>
Geist nahe zu bringen streben. Jedes hat seinen <lb n="pkl_131.012"/>
eignen Kreis. Das Mährchen ist <hi rendition="#g">poetischer,</hi> die Sage <lb n="pkl_131.013"/> <hi rendition="#g">historischer;</hi> jenes stehet beinahe nur <hi rendition="#g">in sich selber <lb n="pkl_131.014"/>
fest,</hi> in seiner angebornen Blüthe und Vollendung; <lb n="pkl_131.015"/>
die Sage, von einer geringern Mannichfaltigkeit der <lb n="pkl_131.016"/>
Farbe, hat noch das Besondere, daß sie an etwas <hi rendition="#g">Bekanntem</hi> <lb n="pkl_131.017"/>
und <hi rendition="#g">Bewußtem</hi> hafte, an einem Ort <lb n="pkl_131.018"/>
oder einem durch die Geschichte gesicherten Namen. <lb n="pkl_131.019"/>
Aus dieser ihrer Gebundenheit folgt, daß sie nicht, <lb n="pkl_131.020"/>
gleich dem Mährchen überall zu Hause sein könne; <lb n="pkl_131.021"/>
sondern irgend eine Bedingung voraussetze, ohne welche <lb n="pkl_131.022"/>
sie bald gar nicht da, bald nur unvollkommener vorhanden <lb n="pkl_131.023"/>
sein würde. Kaum ein Flecken wird sich in     <lb n="pkl_131.024"/>
ganz Deutschland finden, wo es nicht ausführliche
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[131/0157] pkl_131.001 §. 194. *) „Es wird dem Menschen von Heimathswegen pkl_131.002 ein guter Engel beigegeben, der ihn, wann pkl_131.003 er in's Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt pkl_131.004 eines Mitwandernden begleitet; wer nicht ahnt, was pkl_131.005 ihm Gutes dadurch widerfährt, der mag es fühlen, pkl_131.006 wenn er die Gränze des Vaterlands überschreitet, wo pkl_131.007 ihn jener verläßt. Diese wohlthätige Begleitung ist das pkl_131.008 unerschöpfliche Gut der Mährchen, Sagen und pkl_131.009 Geschichte, welche neben einander stehen und uns pkl_131.010 nacheinander die Vorzeit als einen frischen und belebenden pkl_131.011 Geist nahe zu bringen streben. Jedes hat seinen pkl_131.012 eignen Kreis. Das Mährchen ist poetischer, die Sage pkl_131.013 historischer; jenes stehet beinahe nur in sich selber pkl_131.014 fest, in seiner angebornen Blüthe und Vollendung; pkl_131.015 die Sage, von einer geringern Mannichfaltigkeit der pkl_131.016 Farbe, hat noch das Besondere, daß sie an etwas Bekanntem pkl_131.017 und Bewußtem hafte, an einem Ort pkl_131.018 oder einem durch die Geschichte gesicherten Namen. pkl_131.019 Aus dieser ihrer Gebundenheit folgt, daß sie nicht, pkl_131.020 gleich dem Mährchen überall zu Hause sein könne; pkl_131.021 sondern irgend eine Bedingung voraussetze, ohne welche pkl_131.022 sie bald gar nicht da, bald nur unvollkommener vorhanden pkl_131.023 sein würde. Kaum ein Flecken wird sich in pkl_131.024 ganz Deutschland finden, wo es nicht ausführliche *) pkl_131.025 Anmerkung. Die populäre Bedeutsamkeit der Sage pkl_131.026 und des Mährchens bestimmt uns, zur näheren Charakterisirung pkl_131.027 derselben hier das Wesentlichste dessen folgen zu pkl_131.028 lassen, was die Gebrüder Grimm darüber (in der pkl_131.029 Vorrede zu den deutschen Sagen) aussprechen. Man wird pkl_131.030 es uns nicht verargen, wenn wir solcher Männer Worte pkl_131.031 so wiedergeben, wie sie geschrieben wurden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/157
Zitationshilfe: Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/157>, abgerufen am 01.05.2024.