Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.pkl_149.001 Jn den Tendenz-Romanen (die man wohl pkl_149.004 *) pkl_149.007
Anmerkung. Nach unserer Meinung bewirkt er vielmehr pkl_149.008 meist das Gegentheil. Der Geschichtschreiber kann, pkl_149.009 -- selbst wenn er sich einer schönern Darstellungsweise befleißigt, pkl_149.010 als sich von den meisten unserer Historiographen pkl_149.011 rühmen läßt, -- seinen Stoff nicht immer so mundrecht bearbeiten, pkl_149.012 daß der Leser nur "Genuß" daran findet: er muß oft pkl_149.013 Ernst, anhaltenden Fleiß und eine Anstrengung fordern, pkl_149.014 wie sie der historische Roman nie verlangt. Und das pkl_149.015 schreckt ab -- man lies't, aber man studirt nicht gern. pkl_149.016 Aber der historische Roman hat nur zu oft noch eine pkl_149.017 weit bedenklichere Seite, die er zwar mit allen, auf geschichtlichem pkl_149.018 Grunde ruhenden Poesien theilt, die aber bei pkl_149.019 ihm am grellsten heraustritt: er trägt häufig zu falschen pkl_149.020 Vorstellungen über den wahren Hergang der Begebenheiten pkl_149.021 bei, er entstellt die Geschichte in den Köpfen seiner pkl_149.022 Leser. Die Freiheit des Dichters, sich an die historische pkl_149.023 Treue nur so weit zu binden, als es die poetischen pkl_149.024 Zwecke fordern, bringt diesen Uebelstand mit sich. Würde pkl_149.025 diese Freiheit nur bei unwesentlichen Gegenständen angewendet, pkl_149.026 so ginge es noch, aber leider dehnen sie die Romanschreiber pkl_149.027 oft auf sehr wesentliche aus und schaden so; -- pkl_149.028 wie sehr, das wissen am besten alle Geschichtslehrer an pkl_149.029 höhern Schulen. Denn es ist unmöglich, den Schülern pkl_149.030 immer anzugeben, was im Roman wahr und was erfunden, pkl_149.031 es ist unmöglich, weil die Zeit fehlt, ganz abgesehen pkl_149.032 von dem Umstande, daß es Keinem zuzumuthen ist, alle pkl_149.033 Specialitäten, die der Romanschreiber wohl aus weitläufigen pkl_149.034 Quellen schöpfen kann, nach ihrem wirklichen Hergange pkl_149.035 im Kopfe zu haben. Deshalb empfehlen wir allen Dichtern pkl_149.036 historischer Romane, doch dem Beispiele zu folgen, pkl_149.037 was Mundt in seinem Münzer gegeben: möglichst geschichtlich pkl_149.038 treu zu schreiben! pkl_149.001 Jn den Tendenz-Romanen (die man wohl pkl_149.004 *) pkl_149.007
Anmerkung. Nach unserer Meinung bewirkt er vielmehr pkl_149.008 meist das Gegentheil. Der Geschichtschreiber kann, pkl_149.009 — selbst wenn er sich einer schönern Darstellungsweise befleißigt, pkl_149.010 als sich von den meisten unserer Historiographen pkl_149.011 rühmen läßt, — seinen Stoff nicht immer so mundrecht bearbeiten, pkl_149.012 daß der Leser nur „Genuß“ daran findet: er muß oft pkl_149.013 Ernst, anhaltenden Fleiß und eine Anstrengung fordern, pkl_149.014 wie sie der historische Roman nie verlangt. Und das pkl_149.015 schreckt ab — man lies't, aber man studirt nicht gern. pkl_149.016 Aber der historische Roman hat nur zu oft noch eine pkl_149.017 weit bedenklichere Seite, die er zwar mit allen, auf geschichtlichem pkl_149.018 Grunde ruhenden Poesien theilt, die aber bei pkl_149.019 ihm am grellsten heraustritt: er trägt häufig zu falschen pkl_149.020 Vorstellungen über den wahren Hergang der Begebenheiten pkl_149.021 bei, er entstellt die Geschichte in den Köpfen seiner pkl_149.022 Leser. Die Freiheit des Dichters, sich an die historische pkl_149.023 Treue nur so weit zu binden, als es die poetischen pkl_149.024 Zwecke fordern, bringt diesen Uebelstand mit sich. Würde pkl_149.025 diese Freiheit nur bei unwesentlichen Gegenständen angewendet, pkl_149.026 so ginge es noch, aber leider dehnen sie die Romanschreiber pkl_149.027 oft auf sehr wesentliche aus und schaden so; — pkl_149.028 wie sehr, das wissen am besten alle Geschichtslehrer an pkl_149.029 höhern Schulen. 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das ernste Studium wirklicher Geschichte fördere, möchten pkl_149.002
wir bezweifeln. *)
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Jn den Tendenz-Romanen (die man wohl pkl_149.004
auch unter dem Namen philosophische Romane pkl_149.005
zusammenfaßt) tritt entweder das Faktische mehr pkl_149.006
oder weniger zurück und macht der Entwickelung
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Anmerkung. Nach unserer Meinung bewirkt er vielmehr pkl_149.008
meist das Gegentheil. Der Geschichtschreiber kann, pkl_149.009
— selbst wenn er sich einer schönern Darstellungsweise befleißigt, pkl_149.010
als sich von den meisten unserer Historiographen pkl_149.011
rühmen läßt, — seinen Stoff nicht immer so mundrecht bearbeiten, pkl_149.012
daß der Leser nur „Genuß“ daran findet: er muß oft pkl_149.013
Ernst, anhaltenden Fleiß und eine Anstrengung fordern, pkl_149.014
wie sie der historische Roman nie verlangt. Und das pkl_149.015
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Aber der historische Roman hat nur zu oft noch eine pkl_149.017
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Grunde ruhenden Poesien theilt, die aber bei pkl_149.019
ihm am grellsten heraustritt: er trägt häufig zu falschen pkl_149.020
Vorstellungen über den wahren Hergang der Begebenheiten pkl_149.021
bei, er entstellt die Geschichte in den Köpfen seiner pkl_149.022
Leser. Die Freiheit des Dichters, sich an die historische pkl_149.023
Treue nur so weit zu binden, als es die poetischen pkl_149.024
Zwecke fordern, bringt diesen Uebelstand mit sich. Würde pkl_149.025
diese Freiheit nur bei unwesentlichen Gegenständen angewendet, pkl_149.026
so ginge es noch, aber leider dehnen sie die Romanschreiber pkl_149.027
oft auf sehr wesentliche aus und schaden so; — pkl_149.028
wie sehr, das wissen am besten alle Geschichtslehrer an pkl_149.029
höhern Schulen. Denn es ist unmöglich, den Schülern pkl_149.030
immer anzugeben, was im Roman wahr und was erfunden, pkl_149.031
es ist unmöglich, weil die Zeit fehlt, ganz abgesehen pkl_149.032
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Specialitäten, die der Romanschreiber wohl aus weitläufigen pkl_149.034
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im Kopfe zu haben. Deshalb empfehlen wir allen Dichtern pkl_149.036
historischer Romane, doch dem Beispiele zu folgen, pkl_149.037
was Mundt in seinem Münzer gegeben: möglichst geschichtlich pkl_149.038
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Zitationshilfe: | Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/175>, abgerufen am 16.02.2025. |