Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.pkl_158.001 §. 222. Da die Handlung des Dramas immer pkl_158.004 pkl_158.001 §. 222. Da die Handlung des Dramas immer pkl_158.004 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0184" n="158"/><lb n="pkl_158.001"/> derselben bilden. <hi rendition="#g">Keine</hi> Person bis zum letzten <hi rendition="#g">Statisten</hi> <lb n="pkl_158.002"/> herab darf als <hi rendition="#g">überflüssig</hi> erscheinen.</p> <lb n="pkl_158.003"/> <p> §. 222. Da die Handlung des Dramas immer <lb n="pkl_158.004"/> den <hi rendition="#g">Schein der Wirklichkeit</hi> tragen soll, so haben <lb n="pkl_158.005"/> viele Theoretiker die Forderung gemacht, den scheinbaren <lb n="pkl_158.006"/> Verlauf derselben nicht nur <hi rendition="#g">an einem Tage,</hi> <lb n="pkl_158.007"/> sondern auch <hi rendition="#g">an einem Orte</hi> vor sich gehen zu lassen, <lb n="pkl_158.008"/> mit andern Worten: die <hi rendition="#g">Einheit der Handlung <lb n="pkl_158.009"/> mit der Einheit der Zeit und des Orts zu <lb n="pkl_158.010"/> verbinden.</hi> Diese Forderung ermangelt jedoch jedes <lb n="pkl_158.011"/> haltbaren Grundes. Denn wollte man den Begriff der <lb n="pkl_158.012"/> <hi rendition="#g">Natürlichkeit</hi> (der allerdings eine wesentliche Eigenschaft <lb n="pkl_158.013"/> des Dramas bildet) so <hi rendition="#g">buchstäblich</hi> fassen und <lb n="pkl_158.014"/> ihn dann konsequent auf alle Zweige der Darstellung <lb n="pkl_158.015"/> ausdehnen, „so würde man dadurch alle poetische Form <lb n="pkl_158.016"/> unmöglich machen, denn wir wissen wohl, daß die <lb n="pkl_158.017"/> mythologischen und historischen Personen nicht unsere <lb n="pkl_158.018"/> Sprache geredet, daß der leidenschaftliche Schmerz sich <lb n="pkl_158.019"/> nicht in Versen ausgedrückt“ u. s. w. „Unsere Einbildungskraft <lb n="pkl_158.020"/> geht aber leicht über die Zeiten hinweg, die <lb n="pkl_158.021"/> vorausgesetzt und angedeutet, aber weggelassen werden, <lb n="pkl_158.022"/> weil nichts Bedeutendes darin vorgeht; sie hält sich <lb n="pkl_158.023"/> einzig an die vorgestellten, entscheidenden Augenblicke, <lb n="pkl_158.024"/> durch deren Zusammendrängung der Dichter „den trägen <lb n="pkl_158.025"/> Gang der Stunden und Tage beflügelt.“ Und eben <lb n="pkl_158.026"/> so leicht vermag sie sich von einem Ort an einen andern <lb n="pkl_158.027"/> zu versetzen, besonders wenn ihr noch die Scenerie <lb n="pkl_158.028"/> und die Eintheilung in Akte zu Hülfe kommt. <lb n="pkl_158.029"/> Selbst die Griechen, auf deren Vorbild man sich hierbei <lb n="pkl_158.030"/> beruft, haben nur eine <hi rendition="#g">scheinbare Stätigkeit <lb n="pkl_158.031"/> der Zeit</hi> beobachtet und sich erlaubt, während der </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [158/0184]
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derselben bilden. Keine Person bis zum letzten Statisten pkl_158.002
herab darf als überflüssig erscheinen.
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§. 222. Da die Handlung des Dramas immer pkl_158.004
den Schein der Wirklichkeit tragen soll, so haben pkl_158.005
viele Theoretiker die Forderung gemacht, den scheinbaren pkl_158.006
Verlauf derselben nicht nur an einem Tage, pkl_158.007
sondern auch an einem Orte vor sich gehen zu lassen, pkl_158.008
mit andern Worten: die Einheit der Handlung pkl_158.009
mit der Einheit der Zeit und des Orts zu pkl_158.010
verbinden. Diese Forderung ermangelt jedoch jedes pkl_158.011
haltbaren Grundes. Denn wollte man den Begriff der pkl_158.012
Natürlichkeit (der allerdings eine wesentliche Eigenschaft pkl_158.013
des Dramas bildet) so buchstäblich fassen und pkl_158.014
ihn dann konsequent auf alle Zweige der Darstellung pkl_158.015
ausdehnen, „so würde man dadurch alle poetische Form pkl_158.016
unmöglich machen, denn wir wissen wohl, daß die pkl_158.017
mythologischen und historischen Personen nicht unsere pkl_158.018
Sprache geredet, daß der leidenschaftliche Schmerz sich pkl_158.019
nicht in Versen ausgedrückt“ u. s. w. „Unsere Einbildungskraft pkl_158.020
geht aber leicht über die Zeiten hinweg, die pkl_158.021
vorausgesetzt und angedeutet, aber weggelassen werden, pkl_158.022
weil nichts Bedeutendes darin vorgeht; sie hält sich pkl_158.023
einzig an die vorgestellten, entscheidenden Augenblicke, pkl_158.024
durch deren Zusammendrängung der Dichter „den trägen pkl_158.025
Gang der Stunden und Tage beflügelt.“ Und eben pkl_158.026
so leicht vermag sie sich von einem Ort an einen andern pkl_158.027
zu versetzen, besonders wenn ihr noch die Scenerie pkl_158.028
und die Eintheilung in Akte zu Hülfe kommt. pkl_158.029
Selbst die Griechen, auf deren Vorbild man sich hierbei pkl_158.030
beruft, haben nur eine scheinbare Stätigkeit pkl_158.031
der Zeit beobachtet und sich erlaubt, während der
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