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Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.

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derselben bilden. Keine Person bis zum letzten Statisten pkl_158.002
herab darf als überflüssig erscheinen.

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den Schein der Wirklichkeit tragen soll, so haben pkl_158.005
viele Theoretiker die Forderung gemacht, den scheinbaren pkl_158.006
Verlauf derselben nicht nur an einem Tage, pkl_158.007
sondern auch an einem Orte vor sich gehen zu lassen, pkl_158.008
mit andern Worten: die Einheit der Handlung pkl_158.009
mit der Einheit der Zeit und des Orts zu pkl_158.010
verbinden.
Diese Forderung ermangelt jedoch jedes pkl_158.011
haltbaren Grundes. Denn wollte man den Begriff der pkl_158.012
Natürlichkeit (der allerdings eine wesentliche Eigenschaft pkl_158.013
des Dramas bildet) so buchstäblich fassen und pkl_158.014
ihn dann konsequent auf alle Zweige der Darstellung pkl_158.015
ausdehnen, "so würde man dadurch alle poetische Form pkl_158.016
unmöglich machen, denn wir wissen wohl, daß die pkl_158.017
mythologischen und historischen Personen nicht unsere pkl_158.018
Sprache geredet, daß der leidenschaftliche Schmerz sich pkl_158.019
nicht in Versen ausgedrückt" u. s. w. "Unsere Einbildungskraft pkl_158.020
geht aber leicht über die Zeiten hinweg, die pkl_158.021
vorausgesetzt und angedeutet, aber weggelassen werden, pkl_158.022
weil nichts Bedeutendes darin vorgeht; sie hält sich pkl_158.023
einzig an die vorgestellten, entscheidenden Augenblicke, pkl_158.024
durch deren Zusammendrängung der Dichter "den trägen pkl_158.025
Gang der Stunden und Tage beflügelt." Und eben pkl_158.026
so leicht vermag sie sich von einem Ort an einen andern pkl_158.027
zu versetzen, besonders wenn ihr noch die Scenerie pkl_158.028
und die Eintheilung in Akte zu Hülfe kommt. pkl_158.029
Selbst die Griechen, auf deren Vorbild man sich hierbei pkl_158.030
beruft, haben nur eine scheinbare Stätigkeit pkl_158.031
der Zeit
beobachtet und sich erlaubt, während der

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derselben bilden. Keine Person bis zum letzten Statisten pkl_158.002
herab darf als überflüssig erscheinen.

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§. 222. Da die Handlung des Dramas immer pkl_158.004
den Schein der Wirklichkeit tragen soll, so haben pkl_158.005
viele Theoretiker die Forderung gemacht, den scheinbaren pkl_158.006
Verlauf derselben nicht nur an einem Tage, pkl_158.007
sondern auch an einem Orte vor sich gehen zu lassen, pkl_158.008
mit andern Worten: die Einheit der Handlung pkl_158.009
mit der Einheit der Zeit und des Orts zu pkl_158.010
verbinden.
Diese Forderung ermangelt jedoch jedes pkl_158.011
haltbaren Grundes. Denn wollte man den Begriff der pkl_158.012
Natürlichkeit (der allerdings eine wesentliche Eigenschaft pkl_158.013
des Dramas bildet) so buchstäblich fassen und pkl_158.014
ihn dann konsequent auf alle Zweige der Darstellung pkl_158.015
ausdehnen, „so würde man dadurch alle poetische Form pkl_158.016
unmöglich machen, denn wir wissen wohl, daß die pkl_158.017
mythologischen und historischen Personen nicht unsere pkl_158.018
Sprache geredet, daß der leidenschaftliche Schmerz sich pkl_158.019
nicht in Versen ausgedrückt“ u. s. w. „Unsere Einbildungskraft pkl_158.020
geht aber leicht über die Zeiten hinweg, die pkl_158.021
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weil nichts Bedeutendes darin vorgeht; sie hält sich pkl_158.023
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Zitationshilfe: Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/184>, abgerufen am 30.04.2024.