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Kleist, Heinrich von: Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe. Berlin, 1810.

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Antlitz, erholt, so denk ich, der Anfall ist wohl auch
vorüber und gehe, mit Pfriemen und Nadeln, an
mein Geschäft. Drauf sag ich: Wohlauf, Herr Ritter!
Nun mögt ihr den Pfalzgrafen treffen; die Schiene
ist eingerenkt, das Herz wird sie euch nicht mehr zer-
sprengen. Der Graf steht auf; er schaut das Mäd-
chen, das ihm bis an die Brusthöhle ragt, vom Wir-
bel zur Sohle, gedankenvoll an, und beugt sich, und
küßt ihr die Stirn und spricht: der Herr seegne
dich, und behüte dich, und schenke dir seinen Frieden,
Amen! Und da wir an das Fenster treten: schmeißt
sich das Mädchen, in dem Augenblick, da er den
Streithengst besteigt, dreißig Fuß hoch, mit aufge-
hobenen Händen, auf das Pflaster der Straße nie-
der: gleich einer Verlohrenen, die ihrer fünf Sinne
beraubt ist! Und bricht sich beide Lenden, ihr heiligen
Herren, beide zarten Lendchen, dicht über des Knie-
runds elfenbeinernem Bau; und ich, alter, bejam-
mernswürdiger Narr, der mein versinkendes Leben auf
sie stützen wollte, muß sie, auf meinen Schultern, wie
zu Grabe tragen; indessen er dort, den Gott ver-
damme! zu Pferd, unter dem Volk, das herbeiströmt,
herüberruft von hinten, was vorgefallen sei! -- Hier
liegt sie nun, auf dem Todbett, in der Glut des
hitzigen Fiebers, sechs endlose Wochen, ohne sich zu
regen. Keinen Laut bringt sie hervor; auch nicht
Antlitz, erholt, ſo denk ich, der Anfall iſt wohl auch
vorüber und gehe, mit Pfriemen und Nadeln, an
mein Geſchäft. Drauf ſag ich: Wohlauf, Herr Ritter!
Nun mögt ihr den Pfalzgrafen treffen; die Schiene
iſt eingerenkt, das Herz wird ſie euch nicht mehr zer-
ſprengen. Der Graf ſteht auf; er ſchaut das Mäd-
chen, das ihm bis an die Bruſthöhle ragt, vom Wir-
bel zur Sohle, gedankenvoll an, und beugt ſich, und
küßt ihr die Stirn und ſpricht: der Herr ſeegne
dich, und behüte dich, und ſchenke dir ſeinen Frieden,
Amen! Und da wir an das Fenſter treten: ſchmeißt
ſich das Mädchen, in dem Augenblick, da er den
Streithengſt beſteigt, dreißig Fuß hoch, mit aufge-
hobenen Händen, auf das Pflaſter der Straße nie-
der: gleich einer Verlohrenen, die ihrer fünf Sinne
beraubt iſt! Und bricht ſich beide Lenden, ihr heiligen
Herren, beide zarten Lendchen, dicht über des Knie-
runds elfenbeinernem Bau; und ich, alter, bejam-
mernswürdiger Narr, der mein verſinkendes Leben auf
ſie ſtützen wollte, muß ſie, auf meinen Schultern, wie
zu Grabe tragen; indeſſen er dort, den Gott ver-
damme! zu Pferd, unter dem Volk, das herbeiſtrömt,
herüberruft von hinten, was vorgefallen ſei! — Hier
liegt ſie nun, auf dem Todbett, in der Glut des
hitzigen Fiebers, ſechs endloſe Wochen, ohne ſich zu
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[14/0020] Antlitz, erholt, ſo denk ich, der Anfall iſt wohl auch vorüber und gehe, mit Pfriemen und Nadeln, an mein Geſchäft. Drauf ſag ich: Wohlauf, Herr Ritter! Nun mögt ihr den Pfalzgrafen treffen; die Schiene iſt eingerenkt, das Herz wird ſie euch nicht mehr zer- ſprengen. Der Graf ſteht auf; er ſchaut das Mäd- chen, das ihm bis an die Bruſthöhle ragt, vom Wir- bel zur Sohle, gedankenvoll an, und beugt ſich, und küßt ihr die Stirn und ſpricht: der Herr ſeegne dich, und behüte dich, und ſchenke dir ſeinen Frieden, Amen! Und da wir an das Fenſter treten: ſchmeißt ſich das Mädchen, in dem Augenblick, da er den Streithengſt beſteigt, dreißig Fuß hoch, mit aufge- hobenen Händen, auf das Pflaſter der Straße nie- der: gleich einer Verlohrenen, die ihrer fünf Sinne beraubt iſt! Und bricht ſich beide Lenden, ihr heiligen Herren, beide zarten Lendchen, dicht über des Knie- runds elfenbeinernem Bau; und ich, alter, bejam- mernswürdiger Narr, der mein verſinkendes Leben auf ſie ſtützen wollte, muß ſie, auf meinen Schultern, wie zu Grabe tragen; indeſſen er dort, den Gott ver- damme! zu Pferd, unter dem Volk, das herbeiſtrömt, herüberruft von hinten, was vorgefallen ſei! — Hier liegt ſie nun, auf dem Todbett, in der Glut des hitzigen Fiebers, ſechs endloſe Wochen, ohne ſich zu regen. Keinen Laut bringt ſie hervor; auch nicht

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Zitationshilfe: Kleist, Heinrich von: Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe. Berlin, 1810, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleist_kaethchen_1810/20>, abgerufen am 21.11.2024.