Halt! dort wacht ein Kranker -- auch in Träumen, wie der Poet, in wahren Fieber- träumen!
Der Mann war ein Freigeist von jeher, und er hält sich stark in seiner letzten Stunde, wie Voltaire. Da sehe ich ihn durch den Ein- schnitt im Fensterladen; er schaut blaß und ru- hig in das leere Nichts, wohin er nach einer Stunde einzugehen gedenkt, um den traum- losen Schlaf auf immer zu schlafen. Die Ro- sen des Lebens sind von seinen Wangen abge- fallen, aber sie blühen rund um ihn auf den Gesichtern dreier holder Knaben. Der jüngste droht ihm kindlich unwissend in das blasse starre Antlitz, weil es nicht mehr lächeln will, wie sonst. Die andern beiden stehen ernst be- trachtend, sie können sich den Tod noch nicht denken in ihrem frischen Leben.
Das junge Weib dagegen mit aufgelößtem Haar und offner schöner Brust, blickt verzwei-
Halt! dort wacht ein Kranker — auch in Traͤumen, wie der Poet, in wahren Fieber- traͤumen!
Der Mann war ein Freigeiſt von jeher, und er haͤlt ſich ſtark in ſeiner letzten Stunde, wie Voltaire. Da ſehe ich ihn durch den Ein- ſchnitt im Fenſterladen; er ſchaut blaß und ru- hig in das leere Nichts, wohin er nach einer Stunde einzugehen gedenkt, um den traum- loſen Schlaf auf immer zu ſchlafen. Die Ro- ſen des Lebens ſind von ſeinen Wangen abge- fallen, aber ſie bluͤhen rund um ihn auf den Geſichtern dreier holder Knaben. Der juͤngſte droht ihm kindlich unwiſſend in das blaſſe ſtarre Antlitz, weil es nicht mehr laͤcheln will, wie ſonſt. Die andern beiden ſtehen ernſt be- trachtend, ſie koͤnnen ſich den Tod noch nicht denken in ihrem friſchen Leben.
Das junge Weib dagegen mit aufgeloͤßtem Haar und offner ſchoͤner Bruſt, blickt verzwei-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0007"n="5"/><p>Halt! dort wacht ein Kranker — auch in<lb/>
Traͤumen, wie der Poet, in wahren Fieber-<lb/>
traͤumen!</p><lb/><p>Der Mann war ein Freigeiſt von jeher,<lb/>
und er haͤlt ſich ſtark in ſeiner letzten Stunde,<lb/>
wie Voltaire. Da ſehe ich ihn durch den Ein-<lb/>ſchnitt im Fenſterladen; er ſchaut blaß und ru-<lb/>
hig in das leere Nichts, wohin er nach einer<lb/>
Stunde einzugehen gedenkt, um den traum-<lb/>
loſen Schlaf auf immer zu ſchlafen. Die Ro-<lb/>ſen des Lebens ſind von ſeinen Wangen abge-<lb/>
fallen, aber ſie bluͤhen rund um ihn auf den<lb/>
Geſichtern dreier holder Knaben. Der juͤngſte<lb/>
droht ihm kindlich unwiſſend in das blaſſe<lb/>ſtarre Antlitz, weil es nicht mehr laͤcheln will,<lb/>
wie ſonſt. Die andern beiden ſtehen ernſt be-<lb/>
trachtend, ſie koͤnnen ſich den Tod noch nicht<lb/>
denken in ihrem friſchen Leben.</p><lb/><p>Das junge Weib dagegen mit aufgeloͤßtem<lb/>
Haar und offner ſchoͤner Bruſt, blickt verzwei-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[5/0007]
Halt! dort wacht ein Kranker — auch in
Traͤumen, wie der Poet, in wahren Fieber-
traͤumen!
Der Mann war ein Freigeiſt von jeher,
und er haͤlt ſich ſtark in ſeiner letzten Stunde,
wie Voltaire. Da ſehe ich ihn durch den Ein-
ſchnitt im Fenſterladen; er ſchaut blaß und ru-
hig in das leere Nichts, wohin er nach einer
Stunde einzugehen gedenkt, um den traum-
loſen Schlaf auf immer zu ſchlafen. Die Ro-
ſen des Lebens ſind von ſeinen Wangen abge-
fallen, aber ſie bluͤhen rund um ihn auf den
Geſichtern dreier holder Knaben. Der juͤngſte
droht ihm kindlich unwiſſend in das blaſſe
ſtarre Antlitz, weil es nicht mehr laͤcheln will,
wie ſonſt. Die andern beiden ſtehen ernſt be-
trachtend, ſie koͤnnen ſich den Tod noch nicht
denken in ihrem friſchen Leben.
Das junge Weib dagegen mit aufgeloͤßtem
Haar und offner ſchoͤner Bruſt, blickt verzwei-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/7>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.