Böses und Gutes zu unterscheiden, wenn die Leidenschaften die schwache Vernunft überbrüllen, wie das tosende Meer die Stim- me des Steuermanns, dessen Schiff gegen die Klippen treibt? Wozu das Böse? Wa- rum das Böse? Er wollte es so; kann der Mensch den Saamen des Bösen aus der un- geheuren Masse herausreißen, den er mit Willen hineingelegt hat? Noch wüthender hasse ich nun die Welt, den Menschen und mich. Warum gab man mir, der zum Lei- den gebohren ist, den Drang nach Glück? Warum dem zur Finsterniß gebohrnen, den Wunsch nach Licht? Warum dem Sclaven den Durst nach Freyheit? Warum dem Wurme das Verlangen zu fliegen? Wozu eine unbeschränkte Einbildungskraft, die immer gebährende Mutter kühner Begier- den, verwegner Wünsche und Gedanken? Zerschlage das Fleisch, das meine dunkle zweifelvolle Seele umhüllt nimm ihr das Erinnern, daß sie einen menschlichen Leib zum Sünder gemacht hat, dann will ich ei-
ner
Boͤſes und Gutes zu unterſcheiden, wenn die Leidenſchaften die ſchwache Vernunft uͤberbruͤllen, wie das toſende Meer die Stim- me des Steuermanns, deſſen Schiff gegen die Klippen treibt? Wozu das Boͤſe? Wa- rum das Boͤſe? Er wollte es ſo; kann der Menſch den Saamen des Boͤſen aus der un- geheuren Maſſe herausreißen, den er mit Willen hineingelegt hat? Noch wuͤthender haſſe ich nun die Welt, den Menſchen und mich. Warum gab man mir, der zum Lei- den gebohren iſt, den Drang nach Gluͤck? Warum dem zur Finſterniß gebohrnen, den Wunſch nach Licht? Warum dem Sclaven den Durſt nach Freyheit? Warum dem Wurme das Verlangen zu fliegen? Wozu eine unbeſchraͤnkte Einbildungskraft, die immer gebaͤhrende Mutter kuͤhner Begier- den, verwegner Wuͤnſche und Gedanken? Zerſchlage das Fleiſch, das meine dunkle zweifelvolle Seele umhuͤllt nimm ihr das Erinnern, daß ſie einen menſchlichen Leib zum Suͤnder gemacht hat, dann will ich ei-
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Boͤſes und Gutes zu unterſcheiden, wenn
die Leidenſchaften die ſchwache Vernunft
uͤberbruͤllen, wie das toſende Meer die Stim-
me des Steuermanns, deſſen Schiff gegen
die Klippen treibt? Wozu das Boͤſe? Wa-
rum das Boͤſe? Er wollte es ſo; kann der
Menſch den Saamen des Boͤſen aus der un-
geheuren Maſſe herausreißen, den er mit
Willen hineingelegt hat? Noch wuͤthender
haſſe ich nun die Welt, den Menſchen und
mich. Warum gab man mir, der zum Lei-
den gebohren iſt, den Drang nach Gluͤck?
Warum dem zur Finſterniß gebohrnen, den
Wunſch nach Licht? Warum dem Sclaven
den Durſt nach Freyheit? Warum dem
Wurme das Verlangen zu fliegen? Wozu
eine unbeſchraͤnkte Einbildungskraft, die
immer gebaͤhrende Mutter kuͤhner Begier-
den, verwegner Wuͤnſche und Gedanken?
Zerſchlage das Fleiſch, das meine dunkle
zweifelvolle Seele umhuͤllt nimm ihr das
Erinnern, daß ſie einen menſchlichen Leib
zum Suͤnder gemacht hat, dann will ich ei-
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Klinger, Friedrich Maximilian: Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt. St. Petersburg, 1791, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klinger_faust_1791/409>, abgerufen am 21.11.2024.
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