laute gemacht wurden. Wie sehr man überhaupt damals in der Sprache schwankte, erhelt daraus, daß man wol drey Jahrhunderte lang das so oft wiederkommende Wort seyn mit der grösten Ver- schiedenheit bildete.
Da man nun mit diesem Wichtigeren, und leich- ter Festzusezenden nicht konte zu Stande kommen; so war es kein Wunder, daß man das weniger wich- tige, und das doch zugleich (wegen seiner vielen klei- nen Theile) schwerer zu bestimmen war, und mehr Doppelsinn verursachte, so vernachlässigte, daß man es zulezt ganz muste fahren lassen. Es ist kein klei- ner Verlust, den die Sprache hierdurch gelitten hat.
Sunt lacrimae & vocum, & mentem mor- talia tangunt.
Jet ist unsre Sprache ein tiefgewurzelter, hoher, vielästiger, fruchtvoller Baum, dem aber hier und da etwas Laub fehlt. Und daß sie das ist, kann jene vielleicht zu weichen Thränen schon stillen.
Alle einfache und vermehrte Wörter sind Stam- wörter. Die lezten stammen von den ersten ab, und von jenen wieder andre. Soll Schuld Schuld- ner; kann Kunst Künstler. Welche einfache Wör- ter aber von einander abstammen, kann man nur selten ausmachen. Fliessen (die Verändrungs- sylbe en komt hier nicht in Betrachtung) kann von Fluß; aber Fluß kann auch von fliessen abstammen. Hingegen ist der bestimte Umlaut (a in ä, o in ö, u in ü) ein unfehlbares Kenzeichen der Abstammung, als strömen von Strom.
Von den mehrsylbigen Wörtern. Sie bestehen entweder aus mehr als einer Stamsylbe, als Ehr- geiz; diese haben zwey Hauptbegriffe, ob gleich der eine der vornehmste ist; oder sie bestehn aus Stam-
sylben
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laute gemacht wurden. Wie ſehr man uͤberhaupt damals in der Sprache ſchwankte, erhelt daraus, daß man wol drey Jahrhunderte lang das ſo oft wiederkommende Wort ſeyn mit der groͤſten Ver- ſchiedenheit bildete.
Da man nun mit dieſem Wichtigeren, und leich- ter Feſtzuſezenden nicht konte zu Stande kommen; ſo war es kein Wunder, daß man das weniger wich- tige, und das doch zugleich (wegen ſeiner vielen klei- nen Theile) ſchwerer zu beſtimmen war, und mehr Doppelſinn verurſachte, ſo vernachlaͤſſigte, daß man es zulezt ganz muſte fahren laſſen. Es iſt kein klei- ner Verluſt, den die Sprache hierdurch gelitten hat.
Sunt lacrimae & vocum, & mentem mor- talia tangunt.
Jet iſt unſre Sprache ein tiefgewurzelter, hoher, vielaͤſtiger, fruchtvoller Baum, dem aber hier und da etwas Laub fehlt. Und daß ſie das iſt, kann jene vielleicht zu weichen Thraͤnen ſchon ſtillen.
Alle einfache und vermehrte Woͤrter ſind Stam- woͤrter. Die lezten ſtammen von den erſten ab, und von jenen wieder andre. Soll Schuld Schuld- ner; kann Kunſt Kuͤnſtler. Welche einfache Woͤr- ter aber von einander abſtammen, kann man nur ſelten ausmachen. Flieſſen (die Veraͤndrungs- ſylbe en komt hier nicht in Betrachtung) kann von Fluß; aber Fluß kann auch von flieſſen abſtammen. Hingegen iſt der beſtimte Umlaut (a in aͤ, o in oͤ, u in uͤ) ein unfehlbares Kenzeichen der Abſtammung, als ſtroͤmen von Strom.
Von den mehrſylbigen Woͤrtern. Sie beſtehen entweder aus mehr als einer Stamſylbe, als Ehr- geiz; dieſe haben zwey Hauptbegriffe, ob gleich der eine der vornehmſte iſt; oder ſie beſtehn aus Stam-
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laute gemacht wurden. Wie ſehr man uͤberhaupt
damals in der Sprache ſchwankte, erhelt daraus,
daß man wol drey Jahrhunderte lang das ſo oft
wiederkommende Wort ſeyn mit der groͤſten Ver-
ſchiedenheit bildete.
Da man nun mit dieſem Wichtigeren, und leich-
ter Feſtzuſezenden nicht konte zu Stande kommen;
ſo war es kein Wunder, daß man das weniger wich-
tige, und das doch zugleich (wegen ſeiner vielen klei-
nen Theile) ſchwerer zu beſtimmen war, und mehr
Doppelſinn verurſachte, ſo vernachlaͤſſigte, daß man
es zulezt ganz muſte fahren laſſen. Es iſt kein klei-
ner Verluſt, den die Sprache hierdurch gelitten hat.
Sunt lacrimae & vocum, & mentem mor-
talia tangunt.
Jet iſt unſre Sprache ein tiefgewurzelter, hoher,
vielaͤſtiger, fruchtvoller Baum, dem aber hier und
da etwas Laub fehlt. Und daß ſie das iſt, kann
jene vielleicht zu weichen Thraͤnen ſchon ſtillen.
Alle einfache und vermehrte Woͤrter ſind Stam-
woͤrter. Die lezten ſtammen von den erſten ab,
und von jenen wieder andre. Soll Schuld Schuld-
ner; kann Kunſt Kuͤnſtler. Welche einfache Woͤr-
ter aber von einander abſtammen, kann man
nur ſelten ausmachen. Flieſſen (die Veraͤndrungs-
ſylbe en komt hier nicht in Betrachtung) kann von
Fluß; aber Fluß kann auch von flieſſen abſtammen.
Hingegen iſt der beſtimte Umlaut (a in aͤ, o in oͤ,
u in uͤ) ein unfehlbares Kenzeichen der Abſtammung,
als ſtroͤmen von Strom.
Von den mehrſylbigen Woͤrtern. Sie beſtehen
entweder aus mehr als einer Stamſylbe, als Ehr-
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Klopstock, Friedrich Gottlieb: Deutsche Gelehrtenrepublik. Hamburg, 1774, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_gelehrtenrepublik_1774/333>, abgerufen am 22.11.2024.
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