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[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 1. Halle, 1751.

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Der Meßias.

Bey dem Jünger vorbey, daß des Bergs Haupt unter ihm bebte.
Aber Jscharioth blieb, mit kalten erblassenden Wangen,
Wie in tödtlichem Schlummer. Der Seraph gieng seitwärts, und seufzte.
Jndem erschien dem Jünger im Traume sein Vater, und sah ihn
Trostlos und kummervoll an, und sprach mit bebender Stimme:

Und du schläfst, Jscharioth, hier unbekümmert und ruhig?
Und entfernst dich so lange von Jesu, als wenn du nicht wüßtest,
Daß er dich haßt, und die übrigen Jünger dir insgesammt vorzieht!
Warum bist du nicht immer bey ihm, und um ihn zugegen?
Warum suchest du nicht von neuem sein Herz zu gewinnen?
Wem überließ, Jscharioth, dich dein sterbender Vater!
Gott! mit welcher Vergehung hab ichs, mit welchem Verbrechen
Hats mein Geschlecht verdient, daß ich aus dem Reiche der Schatten
Kommen, und um Jscharioth hier und sein trauriges Schicksal
Weinen muß? Ach meynst du, du werdest im Reiche des Mittlers,
Das er errichten wird, glücklicher seyn; so betrügst du dich, Aermster!
Kennest du nicht Petrum, kennst du die Zebedäiden,
Diese geliebtesten Jünger nicht mehr? Die sind es, die werden
Größer, als du, und herrlicher seyn! Die werden bey Jesu
Schätze, wie Ströme, zu sich von des Landes Milde versammeln.
Auch die übrigen werden ein viel glückseliger Erbtheil,
Als du, verlassener Sohn! von ihrem Meßias empfangen.
Komm, ich will dir ihr Reich in seiner Herrlichkeit zeigen.
Steig den Berg auf! Wanke nicht, Sohn! Es ist einmal dein Schicksal!
Siehest du dort vor uns das unendliche breite Gebirge,
Welches ins fruchtbare Thal verlängerte Schatten hinabstreckt?
Hier

Der Meßias.

Bey dem Juͤnger vorbey, daß des Bergs Haupt unter ihm bebte.
Aber Jſcharioth blieb, mit kalten erblaſſenden Wangen,
Wie in toͤdtlichem Schlummer. Der Seraph gieng ſeitwaͤrts, und ſeufzte.
Jndem erſchien dem Juͤnger im Traume ſein Vater, und ſah ihn
Troſtlos und kummervoll an, und ſprach mit bebender Stimme:

Und du ſchlaͤfſt, Jſcharioth, hier unbekuͤmmert und ruhig?
Und entfernſt dich ſo lange von Jeſu, als wenn du nicht wuͤßteſt,
Daß er dich haßt, und die uͤbrigen Juͤnger dir insgeſammt vorzieht!
Warum biſt du nicht immer bey ihm, und um ihn zugegen?
Warum ſucheſt du nicht von neuem ſein Herz zu gewinnen?
Wem uͤberließ, Jſcharioth, dich dein ſterbender Vater!
Gott! mit welcher Vergehung hab ichs, mit welchem Verbrechen
Hats mein Geſchlecht verdient, daß ich aus dem Reiche der Schatten
Kommen, und um Jſcharioth hier und ſein trauriges Schickſal
Weinen muß? Ach meynſt du, du werdeſt im Reiche des Mittlers,
Das er errichten wird, gluͤcklicher ſeyn; ſo betruͤgſt du dich, Aermſter!
Kenneſt du nicht Petrum, kennſt du die Zebedaͤiden,
Dieſe geliebteſten Juͤnger nicht mehr? Die ſind es, die werden
Groͤßer, als du, und herrlicher ſeyn! Die werden bey Jeſu
Schaͤtze, wie Stroͤme, zu ſich von des Landes Milde verſammeln.
Auch die uͤbrigen werden ein viel gluͤckſeliger Erbtheil,
Als du, verlaſſener Sohn! von ihrem Meßias empfangen.
Komm, ich will dir ihr Reich in ſeiner Herrlichkeit zeigen.
Steig den Berg auf! Wanke nicht, Sohn! Es iſt einmal dein Schickſal!
Sieheſt du dort vor uns das unendliche breite Gebirge,
Welches ins fruchtbare Thal verlaͤngerte Schatten hinabſtreckt?
Hier
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[94/0106] Der Meßias. Bey dem Juͤnger vorbey, daß des Bergs Haupt unter ihm bebte. Aber Jſcharioth blieb, mit kalten erblaſſenden Wangen, Wie in toͤdtlichem Schlummer. Der Seraph gieng ſeitwaͤrts, und ſeufzte. Jndem erſchien dem Juͤnger im Traume ſein Vater, und ſah ihn Troſtlos und kummervoll an, und ſprach mit bebender Stimme: Und du ſchlaͤfſt, Jſcharioth, hier unbekuͤmmert und ruhig? Und entfernſt dich ſo lange von Jeſu, als wenn du nicht wuͤßteſt, Daß er dich haßt, und die uͤbrigen Juͤnger dir insgeſammt vorzieht! Warum biſt du nicht immer bey ihm, und um ihn zugegen? Warum ſucheſt du nicht von neuem ſein Herz zu gewinnen? Wem uͤberließ, Jſcharioth, dich dein ſterbender Vater! Gott! mit welcher Vergehung hab ichs, mit welchem Verbrechen Hats mein Geſchlecht verdient, daß ich aus dem Reiche der Schatten Kommen, und um Jſcharioth hier und ſein trauriges Schickſal Weinen muß? Ach meynſt du, du werdeſt im Reiche des Mittlers, Das er errichten wird, gluͤcklicher ſeyn; ſo betruͤgſt du dich, Aermſter! Kenneſt du nicht Petrum, kennſt du die Zebedaͤiden, Dieſe geliebteſten Juͤnger nicht mehr? Die ſind es, die werden Groͤßer, als du, und herrlicher ſeyn! Die werden bey Jeſu Schaͤtze, wie Stroͤme, zu ſich von des Landes Milde verſammeln. Auch die uͤbrigen werden ein viel gluͤckſeliger Erbtheil, Als du, verlaſſener Sohn! von ihrem Meßias empfangen. Komm, ich will dir ihr Reich in ſeiner Herrlichkeit zeigen. Steig den Berg auf! Wanke nicht, Sohn! Es iſt einmal dein Schickſal! Sieheſt du dort vor uns das unendliche breite Gebirge, Welches ins fruchtbare Thal verlaͤngerte Schatten hinabſtreckt? Hier

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Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 1. Halle, 1751, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias01_1751/106>, abgerufen am 16.05.2024.