Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 4. Halle, 1773.

Bild:
<< vorherige Seite

Sechzehnter Gesang.
Oder wie, wenn in einer erhabneren feurigen Seele
Leidenschaft kämpft, und Vernunft, sie Gedanken zu Schaaren um-
schweben,
Wahre Gedanken, und falsche, doch diese mit Mienen der Wahrheit
Täuscher, darein von der Leidenschaft Zauberstabe verwandelt.

Nahe waren dem ersten Gericht die Seelen gekommen.
Und sie schwebten vor Christus, und riefen ihr schnelles Erstannen
Freudig aus, und bang, als sie, den Gott in der Mitte,
Und die Götter um ihn erblickten. Der Herrscher der Welten
Sprach: Wer seyd ihr Seelen? und dumpfes vermischtes Geschrey rief.
Wer sie wären; bescheidenes Urtheil über sich selber,
Stolzes mehr: allein in dem Antliz des stralenvollsten
Unter den Göttern, sahen sie bald, daß Jhm sie vergebens
Sich verbürgen. Und einige Götter sonderten Seelen
Aus dem Haufen, und brachten sie näher dem obersten Gotte.
Und der Richter richtete. Schnelle Worte geboten,
Schnellere Winke den Engeln. Die Engel zeugten, enthüllten
Flammenschrift; bald rollten sie wieder die Bücher zusammen;
Streuten nur wenig umher des furchtbaren Glanzes. Die Seelen
Redeten, schwebten verstummt. Kurz war das Urtheil des Richters!
Traf gleich Blitzen! umglänzte mit Wonne, wie Stralen des Tages
Den, der blind war, oder sein Wink gebot auch den Engeln
Nur den Weg, den hinauf die Seelen, oder hinunter
Wandeln solten. Es führen der Wege viele zum Abgrund,
Viele gen Himmel, einige währen Aeonen, und Stunden
Einige. Dort entdecken es ihnen der Welten Bewohner,
Lassen es hier die Seelen selbst erforschen, warum sie
Sich

Sechzehnter Geſang.
Oder wie, wenn in einer erhabneren feurigen Seele
Leidenſchaft kaͤmpft, und Vernunft, ſie Gedanken zu Schaaren um-
ſchweben,
Wahre Gedanken, und falſche, doch dieſe mit Mienen der Wahrheit
Taͤuſcher, darein von der Leidenſchaft Zauberſtabe verwandelt.

Nahe waren dem erſten Gericht die Seelen gekommen.
Und ſie ſchwebten vor Chriſtus, und riefen ihr ſchnelles Erſtannen
Freudig aus, und bang, als ſie, den Gott in der Mitte,
Und die Goͤtter um ihn erblickten. Der Herrſcher der Welten
Sprach: Wer ſeyd ihr Seelen? und dumpfes vermiſchtes Geſchrey rief.
Wer ſie waͤren; beſcheidenes Urtheil uͤber ſich ſelber,
Stolzes mehr: allein in dem Antliz des ſtralenvollſten
Unter den Goͤttern, ſahen ſie bald, daß Jhm ſie vergebens
Sich verbuͤrgen. Und einige Goͤtter ſonderten Seelen
Aus dem Haufen, und brachten ſie naͤher dem oberſten Gotte.
Und der Richter richtete. Schnelle Worte geboten,
Schnellere Winke den Engeln. Die Engel zeugten, enthuͤllten
Flammenſchrift; bald rollten ſie wieder die Buͤcher zuſammen;
Streuten nur wenig umher des furchtbaren Glanzes. Die Seelen
Redeten, ſchwebten verſtummt. Kurz war das Urtheil des Richters!
Traf gleich Blitzen! umglaͤnzte mit Wonne, wie Stralen des Tages
Den, der blind war, oder ſein Wink gebot auch den Engeln
Nur den Weg, den hinauf die Seelen, oder hinunter
Wandeln ſolten. Es fuͤhren der Wege viele zum Abgrund,
Viele gen Himmel, einige waͤhren Aeonen, und Stunden
Einige. Dort entdecken es ihnen der Welten Bewohner,
Laſſen es hier die Seelen ſelbſt erforſchen, warum ſie
Sich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <lg n="3">
              <pb facs="#f0029" n="29"/>
              <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Sechzehnter Ge&#x017F;ang.</hi> </fw><lb/>
              <l>Oder wie, wenn in einer erhabneren feurigen Seele</l><lb/>
              <l>Leiden&#x017F;chaft ka&#x0364;mpft, und Vernunft, &#x017F;ie Gedanken zu Schaaren um-</l><lb/>
              <l> <hi rendition="#et">&#x017F;chweben,</hi> </l><lb/>
              <l>Wahre Gedanken, und fal&#x017F;che, doch die&#x017F;e mit Mienen der Wahrheit</l><lb/>
              <l>Ta&#x0364;u&#x017F;cher, darein von der Leiden&#x017F;chaft Zauber&#x017F;tabe verwandelt.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="4">
              <l>Nahe waren dem er&#x017F;ten Gericht die Seelen gekommen.</l><lb/>
              <l>Und &#x017F;ie &#x017F;chwebten vor Chri&#x017F;tus, und riefen ihr &#x017F;chnelles Er&#x017F;tannen</l><lb/>
              <l>Freudig aus, und bang, als &#x017F;ie, den Gott in der Mitte,</l><lb/>
              <l>Und die Go&#x0364;tter um ihn erblickten. Der Herr&#x017F;cher der Welten</l><lb/>
              <l>Sprach: Wer &#x017F;eyd ihr Seelen? und dumpfes vermi&#x017F;chtes Ge&#x017F;chrey rief.</l><lb/>
              <l>Wer &#x017F;ie wa&#x0364;ren; be&#x017F;cheidenes Urtheil u&#x0364;ber &#x017F;ich &#x017F;elber,</l><lb/>
              <l>Stolzes mehr: allein in dem Antliz des &#x017F;tralenvoll&#x017F;ten</l><lb/>
              <l>Unter den Go&#x0364;ttern, &#x017F;ahen &#x017F;ie bald, daß Jhm &#x017F;ie vergebens</l><lb/>
              <l>Sich verbu&#x0364;rgen. Und einige Go&#x0364;tter &#x017F;onderten Seelen</l><lb/>
              <l>Aus dem Haufen, und brachten &#x017F;ie na&#x0364;her dem ober&#x017F;ten Gotte.</l><lb/>
              <l>Und der Richter richtete. Schnelle Worte geboten,</l><lb/>
              <l>Schnellere Winke den Engeln. Die Engel zeugten, enthu&#x0364;llten</l><lb/>
              <l>Flammen&#x017F;chrift; bald rollten &#x017F;ie wieder die Bu&#x0364;cher zu&#x017F;ammen;</l><lb/>
              <l>Streuten nur wenig umher des furchtbaren Glanzes. Die Seelen</l><lb/>
              <l>Redeten, &#x017F;chwebten ver&#x017F;tummt. Kurz war das Urtheil des Richters!</l><lb/>
              <l>Traf gleich Blitzen! umgla&#x0364;nzte mit Wonne, wie Stralen des Tages</l><lb/>
              <l>Den, der blind war, oder &#x017F;ein Wink gebot auch den Engeln</l><lb/>
              <l>Nur den Weg, den hinauf die Seelen, oder hinunter</l><lb/>
              <l>Wandeln &#x017F;olten. Es fu&#x0364;hren der Wege viele zum Abgrund,</l><lb/>
              <l>Viele gen Himmel, einige wa&#x0364;hren Aeonen, und Stunden</l><lb/>
              <l>Einige. Dort entdecken es ihnen der Welten Bewohner,</l><lb/>
              <l>La&#x017F;&#x017F;en es hier die Seelen &#x017F;elb&#x017F;t erfor&#x017F;chen, warum &#x017F;ie</l><lb/>
              <fw place="bottom" type="catch">Sich</fw><lb/>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[29/0029] Sechzehnter Geſang. Oder wie, wenn in einer erhabneren feurigen Seele Leidenſchaft kaͤmpft, und Vernunft, ſie Gedanken zu Schaaren um- ſchweben, Wahre Gedanken, und falſche, doch dieſe mit Mienen der Wahrheit Taͤuſcher, darein von der Leidenſchaft Zauberſtabe verwandelt. Nahe waren dem erſten Gericht die Seelen gekommen. Und ſie ſchwebten vor Chriſtus, und riefen ihr ſchnelles Erſtannen Freudig aus, und bang, als ſie, den Gott in der Mitte, Und die Goͤtter um ihn erblickten. Der Herrſcher der Welten Sprach: Wer ſeyd ihr Seelen? und dumpfes vermiſchtes Geſchrey rief. Wer ſie waͤren; beſcheidenes Urtheil uͤber ſich ſelber, Stolzes mehr: allein in dem Antliz des ſtralenvollſten Unter den Goͤttern, ſahen ſie bald, daß Jhm ſie vergebens Sich verbuͤrgen. Und einige Goͤtter ſonderten Seelen Aus dem Haufen, und brachten ſie naͤher dem oberſten Gotte. Und der Richter richtete. Schnelle Worte geboten, Schnellere Winke den Engeln. Die Engel zeugten, enthuͤllten Flammenſchrift; bald rollten ſie wieder die Buͤcher zuſammen; Streuten nur wenig umher des furchtbaren Glanzes. Die Seelen Redeten, ſchwebten verſtummt. Kurz war das Urtheil des Richters! Traf gleich Blitzen! umglaͤnzte mit Wonne, wie Stralen des Tages Den, der blind war, oder ſein Wink gebot auch den Engeln Nur den Weg, den hinauf die Seelen, oder hinunter Wandeln ſolten. Es fuͤhren der Wege viele zum Abgrund, Viele gen Himmel, einige waͤhren Aeonen, und Stunden Einige. Dort entdecken es ihnen der Welten Bewohner, Laſſen es hier die Seelen ſelbſt erforſchen, warum ſie Sich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias04_1773
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias04_1773/29
Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 4. Halle, 1773, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias04_1773/29>, abgerufen am 26.11.2024.