Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 4. Halle, 1773.

Bild:
<< vorherige Seite

Achtzehnter Gesang.
Drohend sich um; trat hin in die Nacht. Die furchtbare Tiefe
That vor dem Seraph sich auf. Mir wurden die Augen geöffnet,
Daß ich sah, was sie sahn. Sie wollten ihr Angesicht wenden;
Aber sie hielt des Sohns Allmacht wie starrende Felsen.
Und sie standen, und schauten. Da lagen Todtengebeine!
Und ein Sturmwind braust' in dem langen Jammergefilde!
Der ergriff die Gebein', und sie bebten! und jedes Gebein sprach
Seine Stimme; die Stimme war Fluch! Da hub ich mein Auge
Von dem Gefild' empor, und betete zu dem Erbarmer
Derer, die sich erbarmten. Als ich noch betete, kamen
Aus der Schaar der Getödteten hundert in weissem Gewande,
Hundert Jünglinge, jeder ein Frühling in Eden geboren,
Jeder ein Morgen der Auferstehung. Jhr freudiger Flug klang,
Da sie kamen, melodisch einher. Wie süß war ihr Anblick,
Da sie kamen die Brüder Abels. Sie legten die Kronen
Nieder am Thron, und sangen. Sie sangen dem, der Gericht hielt:

Wer ist der, der vom Kidron herauf in blutigem Schweiß kommt?
Hosianna! auf Salems Gebirgen mit Wunden bedeckt wird,
Schön mit Wunden?. Jch bin's, der für die Menschen erwürgt ist!.
Warum sinkt dein Gebein von diesem Tode belastet?
Warum trieft dir die Stirne von Blut, wie der Streitenden Stirne?
Warum rufst du so laut?. Jch hab' allein gestritten!
Und es ist keiner mit mir von den Söhnen der Erde gewesen!
Amen! Amen! du bist der Vollender, der Erst' und der Letzte!
Hosianna! Du hubst mit Eile den Fuß aus dem Grabe;
Stiegst auf den Thron! Nun sitzest du, Herrscher, und richtest die
Todten,
Die

Achtzehnter Geſang.
Drohend ſich um; trat hin in die Nacht. Die furchtbare Tiefe
That vor dem Seraph ſich auf. Mir wurden die Augen geoͤffnet,
Daß ich ſah, was ſie ſahn. Sie wollten ihr Angeſicht wenden;
Aber ſie hielt des Sohns Allmacht wie ſtarrende Felſen.
Und ſie ſtanden, und ſchauten. Da lagen Todtengebeine!
Und ein Sturmwind brauſt’ in dem langen Jammergefilde!
Der ergriff die Gebein’, und ſie bebten! und jedes Gebein ſprach
Seine Stimme; die Stimme war Fluch! Da hub ich mein Auge
Von dem Gefild’ empor, und betete zu dem Erbarmer
Derer, die ſich erbarmten. Als ich noch betete, kamen
Aus der Schaar der Getoͤdteten hundert in weiſſem Gewande,
Hundert Juͤnglinge, jeder ein Fruͤhling in Eden geboren,
Jeder ein Morgen der Auferſtehung. Jhr freudiger Flug klang,
Da ſie kamen, melodiſch einher. Wie ſuͤß war ihr Anblick,
Da ſie kamen die Bruͤder Abels. Sie legten die Kronen
Nieder am Thron, und ſangen. Sie ſangen dem, der Gericht hielt:

Wer iſt der, der vom Kidron herauf in blutigem Schweiß kommt?
Hoſianna! auf Salems Gebirgen mit Wunden bedeckt wird,
Schoͤn mit Wunden?. Jch bin’s, der fuͤr die Menſchen erwuͤrgt iſt!.
Warum ſinkt dein Gebein von dieſem Tode belaſtet?
Warum trieft dir die Stirne von Blut, wie der Streitenden Stirne?
Warum rufſt du ſo laut?. Jch hab’ allein geſtritten!
Und es iſt keiner mit mir von den Soͤhnen der Erde geweſen!
Amen! Amen! du biſt der Vollender, der Erſt’ und der Letzte!
Hoſianna! Du hubſt mit Eile den Fuß aus dem Grabe;
Stiegſt auf den Thron! Nun ſitzeſt du, Herrſcher, und richteſt die
Todten,
Die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <lg n="14">
              <pb facs="#f0091" n="91"/>
              <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Achtzehnter Ge&#x017F;ang.</hi> </fw><lb/>
              <l>Drohend &#x017F;ich um; trat hin in die Nacht. Die furchtbare Tiefe</l><lb/>
              <l>That vor dem Seraph &#x017F;ich auf. Mir wurden die Augen geo&#x0364;ffnet,</l><lb/>
              <l>Daß ich &#x017F;ah, was &#x017F;ie &#x017F;ahn. Sie wollten ihr Ange&#x017F;icht wenden;</l><lb/>
              <l>Aber &#x017F;ie hielt des Sohns Allmacht wie &#x017F;tarrende Fel&#x017F;en.</l><lb/>
              <l>Und &#x017F;ie &#x017F;tanden, und &#x017F;chauten. Da lagen Todtengebeine!</l><lb/>
              <l>Und ein Sturmwind brau&#x017F;t&#x2019; in dem langen Jammergefilde!</l><lb/>
              <l>Der ergriff die Gebein&#x2019;, und &#x017F;ie bebten! und jedes Gebein &#x017F;prach</l><lb/>
              <l>Seine Stimme; die Stimme war Fluch! Da hub ich mein Auge</l><lb/>
              <l>Von dem Gefild&#x2019; empor, und betete zu dem Erbarmer</l><lb/>
              <l>Derer, die &#x017F;ich erbarmten. Als ich noch betete, kamen</l><lb/>
              <l>Aus der Schaar der Geto&#x0364;dteten hundert in wei&#x017F;&#x017F;em Gewande,</l><lb/>
              <l>Hundert Ju&#x0364;nglinge, jeder ein Fru&#x0364;hling in Eden geboren,</l><lb/>
              <l>Jeder ein Morgen der Aufer&#x017F;tehung. Jhr freudiger Flug klang,</l><lb/>
              <l>Da &#x017F;ie kamen, melodi&#x017F;ch einher. Wie &#x017F;u&#x0364;ß war ihr Anblick,</l><lb/>
              <l>Da &#x017F;ie kamen die Bru&#x0364;der Abels. Sie legten die Kronen</l><lb/>
              <l>Nieder am Thron, und &#x017F;angen. Sie &#x017F;angen dem, der Gericht hielt:</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="15">
              <l>Wer i&#x017F;t der, der vom Kidron herauf in blutigem Schweiß kommt?</l><lb/>
              <l>Ho&#x017F;ianna! auf Salems Gebirgen mit Wunden bedeckt wird,</l><lb/>
              <l>Scho&#x0364;n mit Wunden?. Jch bin&#x2019;s, der fu&#x0364;r die Men&#x017F;chen erwu&#x0364;rgt i&#x017F;t!.</l><lb/>
              <l>Warum &#x017F;inkt dein Gebein von die&#x017F;em Tode bela&#x017F;tet?</l><lb/>
              <l>Warum trieft dir die Stirne von Blut, wie der Streitenden Stirne?</l><lb/>
              <l>Warum ruf&#x017F;t du &#x017F;o laut?. Jch hab&#x2019; allein ge&#x017F;tritten!</l><lb/>
              <l>Und es i&#x017F;t keiner mit mir von den So&#x0364;hnen der Erde gewe&#x017F;en!</l><lb/>
              <l>Amen! Amen! du bi&#x017F;t der Vollender, der Er&#x017F;t&#x2019; und der Letzte!</l><lb/>
              <l>Ho&#x017F;ianna! Du hub&#x017F;t mit Eile den Fuß aus dem Grabe;</l><lb/>
              <l>Stieg&#x017F;t auf den Thron! Nun &#x017F;itze&#x017F;t du, Herr&#x017F;cher, und richte&#x017F;t die</l><lb/>
              <l> <hi rendition="#et">Todten,</hi> </l><lb/>
              <fw place="bottom" type="catch">Die</fw><lb/>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[91/0091] Achtzehnter Geſang. Drohend ſich um; trat hin in die Nacht. Die furchtbare Tiefe That vor dem Seraph ſich auf. Mir wurden die Augen geoͤffnet, Daß ich ſah, was ſie ſahn. Sie wollten ihr Angeſicht wenden; Aber ſie hielt des Sohns Allmacht wie ſtarrende Felſen. Und ſie ſtanden, und ſchauten. Da lagen Todtengebeine! Und ein Sturmwind brauſt’ in dem langen Jammergefilde! Der ergriff die Gebein’, und ſie bebten! und jedes Gebein ſprach Seine Stimme; die Stimme war Fluch! Da hub ich mein Auge Von dem Gefild’ empor, und betete zu dem Erbarmer Derer, die ſich erbarmten. Als ich noch betete, kamen Aus der Schaar der Getoͤdteten hundert in weiſſem Gewande, Hundert Juͤnglinge, jeder ein Fruͤhling in Eden geboren, Jeder ein Morgen der Auferſtehung. Jhr freudiger Flug klang, Da ſie kamen, melodiſch einher. Wie ſuͤß war ihr Anblick, Da ſie kamen die Bruͤder Abels. Sie legten die Kronen Nieder am Thron, und ſangen. Sie ſangen dem, der Gericht hielt: Wer iſt der, der vom Kidron herauf in blutigem Schweiß kommt? Hoſianna! auf Salems Gebirgen mit Wunden bedeckt wird, Schoͤn mit Wunden?. Jch bin’s, der fuͤr die Menſchen erwuͤrgt iſt!. Warum ſinkt dein Gebein von dieſem Tode belaſtet? Warum trieft dir die Stirne von Blut, wie der Streitenden Stirne? Warum rufſt du ſo laut?. Jch hab’ allein geſtritten! Und es iſt keiner mit mir von den Soͤhnen der Erde geweſen! Amen! Amen! du biſt der Vollender, der Erſt’ und der Letzte! Hoſianna! Du hubſt mit Eile den Fuß aus dem Grabe; Stiegſt auf den Thron! Nun ſitzeſt du, Herrſcher, und richteſt die Todten, Die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias04_1773
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias04_1773/91
Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 4. Halle, 1773, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias04_1773/91>, abgerufen am 04.12.2024.