er gern Andern in die Rede fällt, niemand zu Worte kommen lässt; ob er gern geheimnißvoll thut, die Leute auf die Seite ruft, um ihnen gemeine Dinge in das Ohr zu sagen; ob er gern in Allem entscheidet, und so ferner! -- Fasse alle diese Wahrnehmungen zusammen, und sey nicht so unbillig, nach einzelnen solchen Zügen den ganzen Character zu richten!
29.
Sey vorsichtig im Tadel und Wiederspru¬ che! Es giebt wenig Dinge in der Welt, die nicht zwey Seiten haben. Vorurtheile verdun¬ keln oft die Augen, selbst des klügern Mannes, und es ist sehr schwer, sich gänzlich an eines An¬ dern Stelle zu denken. Urtheile besonders nicht so leicht über kluger Leute Handlungen, oder Deine Bescheidenheit müsste Dir sagen, daß Du noch weiser wie sie seyest! und da ist es denn eine misliche Sache um diese Ueberzeugung. Ein kluger Mann ist mehrentheils lebhafter, als ein Andrer, hat heftigere Leidenschaften zu bekämpfen, bekümmert sich weniger um das Ur¬ theil des großen Haufens, hält es weniger der Mühe werth, sein gutes Gewissen durch große
Apo¬
er gern Andern in die Rede faͤllt, niemand zu Worte kommen laͤſſt; ob er gern geheimnißvoll thut, die Leute auf die Seite ruft, um ihnen gemeine Dinge in das Ohr zu ſagen; ob er gern in Allem entſcheidet, und ſo ferner! — Faſſe alle dieſe Wahrnehmungen zuſammen, und ſey nicht ſo unbillig, nach einzelnen ſolchen Zuͤgen den ganzen Character zu richten!
29.
Sey vorſichtig im Tadel und Wiederſpru¬ che! Es giebt wenig Dinge in der Welt, die nicht zwey Seiten haben. Vorurtheile verdun¬ keln oft die Augen, ſelbſt des kluͤgern Mannes, und es iſt ſehr ſchwer, ſich gaͤnzlich an eines An¬ dern Stelle zu denken. Urtheile beſonders nicht ſo leicht uͤber kluger Leute Handlungen, oder Deine Beſcheidenheit muͤſſte Dir ſagen, daß Du noch weiſer wie ſie ſeyeſt! und da iſt es denn eine misliche Sache um dieſe Ueberzeugung. Ein kluger Mann iſt mehrentheils lebhafter, als ein Andrer, hat heftigere Leidenſchaften zu bekaͤmpfen, bekuͤmmert ſich weniger um das Ur¬ theil des großen Haufens, haͤlt es weniger der Muͤhe werth, ſein gutes Gewiſſen durch große
Apo¬
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er gern Andern in die Rede faͤllt, niemand zu
Worte kommen laͤſſt; ob er gern geheimnißvoll
thut, die Leute auf die Seite ruft, um ihnen
gemeine Dinge in das Ohr zu ſagen; ob er gern
in Allem entſcheidet, und ſo ferner! — Faſſe
alle dieſe Wahrnehmungen zuſammen, und ſey
nicht ſo unbillig, nach einzelnen ſolchen Zuͤgen
den ganzen Character zu richten!
29.
Sey vorſichtig im Tadel und Wiederſpru¬
che! Es giebt wenig Dinge in der Welt, die
nicht zwey Seiten haben. Vorurtheile verdun¬
keln oft die Augen, ſelbſt des kluͤgern Mannes,
und es iſt ſehr ſchwer, ſich gaͤnzlich an eines An¬
dern Stelle zu denken. Urtheile beſonders nicht
ſo leicht uͤber kluger Leute Handlungen, oder
Deine Beſcheidenheit muͤſſte Dir ſagen, daß
Du noch weiſer wie ſie ſeyeſt! und da iſt es denn
eine misliche Sache um dieſe Ueberzeugung.
Ein kluger Mann iſt mehrentheils lebhafter,
als ein Andrer, hat heftigere Leidenſchaften zu
bekaͤmpfen, bekuͤmmert ſich weniger um das Ur¬
theil des großen Haufens, haͤlt es weniger der
Muͤhe werth, ſein gutes Gewiſſen durch große
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Knigge, Adolph von: Ueber den Umgang mit Menschen. Bd. 2. Hannover, 1788, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knigge_umgang02_1788/352>, abgerufen am 22.11.2024.
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