sieh, das ist der Mensch -- mit dem besten Herzen -- mit der vollsten Bruderliebe, kann er unglüklich und elend, kann durch Henkerknechte ein Leben enden, das er unter Tränen und Seufzern verlebte. Jhr aber Männer und Jünglinge! die ihr einst eure Brüder richten, und Bluturteile niederschreiben sollt, wendet eure Augen nach jenem Rabenstein. Ein holer Sche- del blinkt euch entgegen, und zerstükte Gebeine dienen krächzenden Raben zur Speise. Der sau- sende Nord pfeift zwischen den Speichen, reißt ein Stük nach dem andern vom flatternden Ge- wande los, und wehets in alle vier Winde. Der volle Mond hängt aus düstern Wolken melancho- lisch über diese Stäte, und wirft einen matten Schein über den Schedel, auf dem nur noch ein- zelnes Haar sich krümmt. Der Fremdling wan- delt mit eilfertigen Schritten vorüber, Schrek- ken rieselt in seinen Haaren, und kalte Furcht macht das Blut eine Zeitlang stokkend -- die er- hizte Fantasie hört das Winseln, und das Geächze des Sterbenden, sieht Geister umherirren, wann die zwölfte Stunde der Nacht ertönt, und wie- der entfliehn, wann sie Morgenluft wittern.
ſieh, das iſt der Menſch — mit dem beſten Herzen — mit der vollſten Bruderliebe, kann er ungluͤklich und elend, kann durch Henkerknechte ein Leben enden, das er unter Traͤnen und Seufzern verlebte. Jhr aber Maͤnner und Juͤnglinge! die ihr einſt eure Bruͤder richten, und Bluturteile niederſchreiben ſollt, wendet eure Augen nach jenem Rabenſtein. Ein holer Sche- del blinkt euch entgegen, und zerſtuͤkte Gebeine dienen kraͤchzenden Raben zur Speiſe. Der ſau- ſende Nord pfeift zwiſchen den Speichen, reißt ein Stuͤk nach dem andern vom flatternden Ge- wande los, und wehets in alle vier Winde. Der volle Mond haͤngt aus duͤſtern Wolken melancho- liſch uͤber dieſe Staͤte, und wirft einen matten Schein uͤber den Schedel, auf dem nur noch ein- zelnes Haar ſich kruͤmmt. Der Fremdling wan- delt mit eilfertigen Schritten voruͤber, Schrek- ken rieſelt in ſeinen Haaren, und kalte Furcht macht das Blut eine Zeitlang ſtokkend — die er- hizte Fantaſie hoͤrt das Winſeln, und das Geaͤchze des Sterbenden, ſieht Geiſter umherirren, wann die zwoͤlfte Stunde der Nacht ertoͤnt, und wie- der entfliehn, wann ſie Morgenluft wittern.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0053"n="45"/>ſieh, <hirendition="#fr">das iſt der Menſch</hi>— mit dem beſten<lb/>
Herzen — mit der vollſten Bruderliebe, kann er<lb/>
ungluͤklich und elend, kann durch Henkerknechte<lb/>
ein Leben enden, das er unter Traͤnen und<lb/>
Seufzern verlebte. Jhr aber <hirendition="#fr">Maͤnner</hi> und<lb/><hirendition="#fr">Juͤnglinge!</hi> die ihr einſt eure Bruͤder richten,<lb/>
und Bluturteile niederſchreiben ſollt, wendet eure<lb/>
Augen nach jenem Rabenſtein. Ein holer Sche-<lb/>
del blinkt euch entgegen, und zerſtuͤkte Gebeine<lb/>
dienen kraͤchzenden Raben zur Speiſe. Der ſau-<lb/>ſende Nord pfeift zwiſchen den Speichen, reißt<lb/>
ein Stuͤk nach dem andern vom flatternden Ge-<lb/>
wande los, und wehets in alle vier Winde. Der<lb/>
volle Mond haͤngt aus duͤſtern Wolken melancho-<lb/>
liſch uͤber dieſe Staͤte, und wirft einen matten<lb/>
Schein uͤber den Schedel, auf dem nur noch ein-<lb/>
zelnes Haar ſich kruͤmmt. Der Fremdling wan-<lb/>
delt mit eilfertigen Schritten voruͤber, Schrek-<lb/>
ken rieſelt in ſeinen Haaren, und kalte Furcht<lb/>
macht das Blut eine Zeitlang ſtokkend — die er-<lb/>
hizte Fantaſie hoͤrt das Winſeln, und das Geaͤchze<lb/>
des Sterbenden, ſieht Geiſter umherirren, wann<lb/>
die zwoͤlfte Stunde der Nacht ertoͤnt, und wie-<lb/>
der entfliehn, wann ſie Morgenluft wittern.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[45/0053]
ſieh, das iſt der Menſch — mit dem beſten
Herzen — mit der vollſten Bruderliebe, kann er
ungluͤklich und elend, kann durch Henkerknechte
ein Leben enden, das er unter Traͤnen und
Seufzern verlebte. Jhr aber Maͤnner und
Juͤnglinge! die ihr einſt eure Bruͤder richten,
und Bluturteile niederſchreiben ſollt, wendet eure
Augen nach jenem Rabenſtein. Ein holer Sche-
del blinkt euch entgegen, und zerſtuͤkte Gebeine
dienen kraͤchzenden Raben zur Speiſe. Der ſau-
ſende Nord pfeift zwiſchen den Speichen, reißt
ein Stuͤk nach dem andern vom flatternden Ge-
wande los, und wehets in alle vier Winde. Der
volle Mond haͤngt aus duͤſtern Wolken melancho-
liſch uͤber dieſe Staͤte, und wirft einen matten
Schein uͤber den Schedel, auf dem nur noch ein-
zelnes Haar ſich kruͤmmt. Der Fremdling wan-
delt mit eilfertigen Schritten voruͤber, Schrek-
ken rieſelt in ſeinen Haaren, und kalte Furcht
macht das Blut eine Zeitlang ſtokkend — die er-
hizte Fantaſie hoͤrt das Winſeln, und das Geaͤchze
des Sterbenden, ſieht Geiſter umherirren, wann
die zwoͤlfte Stunde der Nacht ertoͤnt, und wie-
der entfliehn, wann ſie Morgenluft wittern.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knueppeln_rechte_1784/53>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.