Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949.pko_006.001 pko_006.009 1) pko_006.030 Was man nicht deklinieren kann, pko_006.031 (Der kleine Lateiner.) pko_006.032Das sieht man als ein Neutrum an. Schlechte und verdorbne Sachen pko_006.033 (Rudolf Zacharias Becker: Das Noth- und pko_006.036Sind durch Klugheit gut zu machen. pko_006.034 Hab ich nur immer gutes Brot, pko_006.035 Hat's mit dem Hunger keine Not Hilfsbüchlein, Gotha 1833). 2) pko_006.037
"Eines zu sein mit allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren pko_006.038 ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, pko_006.039 das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag pko_006.040 seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert, und das kochende pko_006.041 Meer der Woge des Kornfeldes gleicht" (Hölderlin: Hyperion). pko_006.001 pko_006.009 1) pko_006.030 Was man nicht deklinieren kann, pko_006.031 (Der kleine Lateiner.) pko_006.032Das sieht man als ein Neutrum an. Schlechte und verdorbne Sachen pko_006.033 (Rudolf Zacharias Becker: Das Noth- und pko_006.036Sind durch Klugheit gut zu machen. pko_006.034 Hab ich nur immer gutes Brot, pko_006.035 Hat's mit dem Hunger keine Not Hilfsbüchlein, Gotha 1833). 2) pko_006.037
„Eines zu sein mit allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren pko_006.038 ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, pko_006.039 das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag pko_006.040 seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert, und das kochende pko_006.041 Meer der Woge des Kornfeldes gleicht“ (Hölderlin: Hyperion). <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0010" n="6"/><lb n="pko_006.001"/> in Wort<hi rendition="#i">klängen</hi> symbolisiert, jene nicht nur begrifflich <hi rendition="#i">verstehbar,</hi> <lb n="pko_006.002"/> sondern auch sinnlich <hi rendition="#i">vernehmbar.</hi> Dies erst macht menschliche Rede <lb n="pko_006.003"/> zur Sprach<hi rendition="#i">kunst.</hi> Solche Sprachkunst erscheint natürlich nicht erst im <lb n="pko_006.004"/> Schrifttum der Hochkulturen; sie ist gleichzeitig mit der Sprache überhaupt <lb n="pko_006.005"/> entstanden, die sich erst spät, und niemals völlig, in Gebrauchs- <lb n="pko_006.006"/> und Kunstsprache geschieden hat, sodaß diese Scheidung auch heute <lb n="pko_006.007"/> nicht streng durchführbar ist. In jedem Sprachgebilde sind beide Sprachschichten <lb n="pko_006.008"/> anzutreffen, nur ihr gegenseitiges Verhältnis wechselt.</p> <p><lb n="pko_006.009"/> Das Doppelgesicht der Sprache, ihr Gebrauchscharakter einer- und <lb n="pko_006.010"/> ihr Kunstcharakter andererseits, ist immer schon wahrgenommen oder <lb n="pko_006.011"/> mindestens gefühlt worden, aber die Theorie hat sich lange vergeblich <lb n="pko_006.012"/> bemüht, den Unterschied richtig zu erfassen. Irrtümlich vermengte man <lb n="pko_006.013"/> die gegensätzlichen <hi rendition="#i">Wesens</hi>begriffe Poesie und Nichtpoesie mit den <lb n="pko_006.014"/> gegensätzlichen <hi rendition="#i">Form</hi>begriffen Vers (gebundene Rede) und Prosa <lb n="pko_006.015"/> (ungebundene Rede); freilich wurde, wie Cicero berichtet, schon von <lb n="pko_006.016"/> einigen antiken Kennern die Prosa des Plato wegen ihres hinreißenden <lb n="pko_006.017"/> Schwungs und der hell aufgesetzten Lichter der Sprache („quod incitatius <lb n="pko_006.018"/> feratur et clarissimis verborum luminibus utatur“) für poetischer <lb n="pko_006.019"/> gehalten als die Komödiendichter, welche trotz des Verses nur <lb n="pko_006.020"/> die alltägliche Umgangssprache redeten. In Wahrheit sind als Poesie <lb n="pko_006.021"/> alle (gebundenen wie ungebundenen) sprachlichen Gebilde anzusehen, die <lb n="pko_006.022"/> zweckfreie künstlerische Wirkungen anstreben oder auslösen; zur Nichtpoesie <lb n="pko_006.023"/> gehören sämtliche Sprachprodukte, die praktischen oder theoretischen <lb n="pko_006.024"/> <hi rendition="#i">Zwecken</hi> dienen. Gereimte Merkverse zur leichteren Einprägung <lb n="pko_006.025"/> grammatischer Regeln oder irgend einer hausbackenen Werk- und <lb n="pko_006.026"/> Lebensweisheit<note xml:id="PKO_006_1" place="foot" n="1)"><lb n="pko_006.030"/><lg><l>Was man nicht deklinieren kann,</l><lb n="pko_006.031"/><l>Das sieht man als ein Neutrum an.</l></lg>(Der kleine Lateiner.) <lb n="pko_006.032"/><lg><l>Schlechte und verdorbne Sachen</l><lb n="pko_006.033"/><l>Sind durch Klugheit gut zu machen.</l><lb n="pko_006.034"/><l>Hab ich nur immer gutes Brot,</l><lb n="pko_006.035"/><l>Hat's mit dem Hunger keine Not</l></lg>(Rudolf Zacharias Becker: Das Noth- und <lb n="pko_006.036"/><hi rendition="#right">Hilfsbüchlein, Gotha 1833).</hi></note> haben demnach mit Poesie gar nichts zu tun, meisterliche <lb n="pko_006.027"/> Prosasätze eines Stilkünstlers sind zur Gänze poetisch<note xml:id="PKO_006_2" place="foot" n="2)"><lb n="pko_006.037"/> „Eines zu sein mit allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren <lb n="pko_006.038"/> ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, <lb n="pko_006.039"/> das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag <lb n="pko_006.040"/> seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert, und das kochende <lb n="pko_006.041"/> Meer der Woge des Kornfeldes gleicht“ (Hölderlin: Hyperion).</note>. Jene teilen <lb n="pko_006.028"/> eben nur einen Inhalt mit, diese bringen ein Erlebnis zum Ausdruck. In <lb n="pko_006.029"/> solcher Weise haben die beiden größten Dichter der Deutschen das </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [6/0010]
pko_006.001
in Wortklängen symbolisiert, jene nicht nur begrifflich verstehbar, pko_006.002
sondern auch sinnlich vernehmbar. Dies erst macht menschliche Rede pko_006.003
zur Sprachkunst. Solche Sprachkunst erscheint natürlich nicht erst im pko_006.004
Schrifttum der Hochkulturen; sie ist gleichzeitig mit der Sprache überhaupt pko_006.005
entstanden, die sich erst spät, und niemals völlig, in Gebrauchs- pko_006.006
und Kunstsprache geschieden hat, sodaß diese Scheidung auch heute pko_006.007
nicht streng durchführbar ist. In jedem Sprachgebilde sind beide Sprachschichten pko_006.008
anzutreffen, nur ihr gegenseitiges Verhältnis wechselt.
pko_006.009
Das Doppelgesicht der Sprache, ihr Gebrauchscharakter einer- und pko_006.010
ihr Kunstcharakter andererseits, ist immer schon wahrgenommen oder pko_006.011
mindestens gefühlt worden, aber die Theorie hat sich lange vergeblich pko_006.012
bemüht, den Unterschied richtig zu erfassen. Irrtümlich vermengte man pko_006.013
die gegensätzlichen Wesensbegriffe Poesie und Nichtpoesie mit den pko_006.014
gegensätzlichen Formbegriffen Vers (gebundene Rede) und Prosa pko_006.015
(ungebundene Rede); freilich wurde, wie Cicero berichtet, schon von pko_006.016
einigen antiken Kennern die Prosa des Plato wegen ihres hinreißenden pko_006.017
Schwungs und der hell aufgesetzten Lichter der Sprache („quod incitatius pko_006.018
feratur et clarissimis verborum luminibus utatur“) für poetischer pko_006.019
gehalten als die Komödiendichter, welche trotz des Verses nur pko_006.020
die alltägliche Umgangssprache redeten. In Wahrheit sind als Poesie pko_006.021
alle (gebundenen wie ungebundenen) sprachlichen Gebilde anzusehen, die pko_006.022
zweckfreie künstlerische Wirkungen anstreben oder auslösen; zur Nichtpoesie pko_006.023
gehören sämtliche Sprachprodukte, die praktischen oder theoretischen pko_006.024
Zwecken dienen. Gereimte Merkverse zur leichteren Einprägung pko_006.025
grammatischer Regeln oder irgend einer hausbackenen Werk- und pko_006.026
Lebensweisheit 1) haben demnach mit Poesie gar nichts zu tun, meisterliche pko_006.027
Prosasätze eines Stilkünstlers sind zur Gänze poetisch 2). Jene teilen pko_006.028
eben nur einen Inhalt mit, diese bringen ein Erlebnis zum Ausdruck. In pko_006.029
solcher Weise haben die beiden größten Dichter der Deutschen das
1) pko_006.030
Was man nicht deklinieren kann, pko_006.031
Das sieht man als ein Neutrum an.
(Der kleine Lateiner.) pko_006.032
Schlechte und verdorbne Sachen pko_006.033
Sind durch Klugheit gut zu machen. pko_006.034
Hab ich nur immer gutes Brot, pko_006.035
Hat's mit dem Hunger keine Not
(Rudolf Zacharias Becker: Das Noth- und pko_006.036
Hilfsbüchlein, Gotha 1833).
2) pko_006.037
„Eines zu sein mit allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren pko_006.038
ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, pko_006.039
das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag pko_006.040
seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert, und das kochende pko_006.041
Meer der Woge des Kornfeldes gleicht“ (Hölderlin: Hyperion).
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |