Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Josseph erfuhr es bald, daß ihm um die Seele nicht leichter ward. Dennoch wich nicht die Furcht seines Herzens, die Furcht, die ihn aufschreckte bei Tag und Nacht vor dem, was er mit seinen Augen sah. Diese eigenthümliche Natur ging auf sonderbaren Wegen; je mehr die Worte der heiligen Schrift, bald als Segen, bald als vernichtender Mehlthau auf sie niedersanken, desto mehr glaubte sie darin zu finden. In ihnen schien ihr die Lösung zu liegen. Hat denn der Jude etwas Anderes, als die beschriebenen Blätter der Thora? Ist sie nicht sein lebendiger Quell, der Baum seines Daseins? -- Zu Fischele kam aus dem Ghetto ein Lehrer heraus, der den Knaben im "Deutschen" sowohl, als im "Jüdischen" unterrichten sollte. Sonst wenig beachtet im Hause, ging Julius Arnsteiner, so nannte sich der Lehrer, seit Jahren dort aus und ein, ohne eine merkliche Spur seiner häufigen Anwesenheit zurückzulassen. Bei der Großmutter war er in nicht hoher Gunst; es wird Vielen eigenthümlich dünken, wenn wir als die Ursache dieser Abneigung die hochdeutsche Sprache des Lehrers bezeichnen. Sie konnte sich mit ihm nicht "ausreden", und dann kränkte es sie jedesmal, wenn der Lehrer jedes "jüdisch" Wort, das dem Knaben während des Unterrichts zuweilen entfuhr, mit unnachsichtlicher Strenge zur Rede stellte. Das Kind, klagte sie öfters, werde sie ja bald gar nicht verstehen. Bei Josseph lag ein gewisses Fernhalten von dem Ghetto- Josseph erfuhr es bald, daß ihm um die Seele nicht leichter ward. Dennoch wich nicht die Furcht seines Herzens, die Furcht, die ihn aufschreckte bei Tag und Nacht vor dem, was er mit seinen Augen sah. Diese eigenthümliche Natur ging auf sonderbaren Wegen; je mehr die Worte der heiligen Schrift, bald als Segen, bald als vernichtender Mehlthau auf sie niedersanken, desto mehr glaubte sie darin zu finden. In ihnen schien ihr die Lösung zu liegen. Hat denn der Jude etwas Anderes, als die beschriebenen Blätter der Thora? Ist sie nicht sein lebendiger Quell, der Baum seines Daseins? — Zu Fischele kam aus dem Ghetto ein Lehrer heraus, der den Knaben im „Deutschen“ sowohl, als im „Jüdischen“ unterrichten sollte. Sonst wenig beachtet im Hause, ging Julius Arnsteiner, so nannte sich der Lehrer, seit Jahren dort aus und ein, ohne eine merkliche Spur seiner häufigen Anwesenheit zurückzulassen. Bei der Großmutter war er in nicht hoher Gunst; es wird Vielen eigenthümlich dünken, wenn wir als die Ursache dieser Abneigung die hochdeutsche Sprache des Lehrers bezeichnen. Sie konnte sich mit ihm nicht „ausreden“, und dann kränkte es sie jedesmal, wenn der Lehrer jedes „jüdisch“ Wort, das dem Knaben während des Unterrichts zuweilen entfuhr, mit unnachsichtlicher Strenge zur Rede stellte. Das Kind, klagte sie öfters, werde sie ja bald gar nicht verstehen. Bei Josseph lag ein gewisses Fernhalten von dem Ghetto- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="7"> <pb facs="#f0103"/> <p>Josseph erfuhr es bald, daß ihm um die Seele nicht leichter ward. Dennoch wich nicht die Furcht seines Herzens, die Furcht, die ihn aufschreckte bei Tag und Nacht vor dem, was er mit seinen Augen sah.</p><lb/> <p>Diese eigenthümliche Natur ging auf sonderbaren Wegen; je mehr die Worte der heiligen Schrift, bald als Segen, bald als vernichtender Mehlthau auf sie niedersanken, desto mehr glaubte sie darin zu finden. In ihnen schien ihr die Lösung zu liegen.</p><lb/> <p>Hat denn der Jude etwas Anderes, als die beschriebenen Blätter der Thora? Ist sie nicht sein lebendiger Quell, der Baum seines Daseins? —</p><lb/> <p>Zu Fischele kam aus dem Ghetto ein Lehrer heraus, der den Knaben im „Deutschen“ sowohl, als im „Jüdischen“ unterrichten sollte. Sonst wenig beachtet im Hause, ging Julius Arnsteiner, so nannte sich der Lehrer, seit Jahren dort aus und ein, ohne eine merkliche Spur seiner häufigen Anwesenheit zurückzulassen. Bei der Großmutter war er in nicht hoher Gunst; es wird Vielen eigenthümlich dünken, wenn wir als die Ursache dieser Abneigung die hochdeutsche Sprache des Lehrers bezeichnen. Sie konnte sich mit ihm nicht „ausreden“, und dann kränkte es sie jedesmal, wenn der Lehrer jedes „jüdisch“ Wort, das dem Knaben während des Unterrichts zuweilen entfuhr, mit unnachsichtlicher Strenge zur Rede stellte. Das Kind, klagte sie öfters, werde sie ja bald gar nicht verstehen. Bei Josseph lag ein gewisses Fernhalten von dem Ghetto-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0103]
Josseph erfuhr es bald, daß ihm um die Seele nicht leichter ward. Dennoch wich nicht die Furcht seines Herzens, die Furcht, die ihn aufschreckte bei Tag und Nacht vor dem, was er mit seinen Augen sah.
Diese eigenthümliche Natur ging auf sonderbaren Wegen; je mehr die Worte der heiligen Schrift, bald als Segen, bald als vernichtender Mehlthau auf sie niedersanken, desto mehr glaubte sie darin zu finden. In ihnen schien ihr die Lösung zu liegen.
Hat denn der Jude etwas Anderes, als die beschriebenen Blätter der Thora? Ist sie nicht sein lebendiger Quell, der Baum seines Daseins? —
Zu Fischele kam aus dem Ghetto ein Lehrer heraus, der den Knaben im „Deutschen“ sowohl, als im „Jüdischen“ unterrichten sollte. Sonst wenig beachtet im Hause, ging Julius Arnsteiner, so nannte sich der Lehrer, seit Jahren dort aus und ein, ohne eine merkliche Spur seiner häufigen Anwesenheit zurückzulassen. Bei der Großmutter war er in nicht hoher Gunst; es wird Vielen eigenthümlich dünken, wenn wir als die Ursache dieser Abneigung die hochdeutsche Sprache des Lehrers bezeichnen. Sie konnte sich mit ihm nicht „ausreden“, und dann kränkte es sie jedesmal, wenn der Lehrer jedes „jüdisch“ Wort, das dem Knaben während des Unterrichts zuweilen entfuhr, mit unnachsichtlicher Strenge zur Rede stellte. Das Kind, klagte sie öfters, werde sie ja bald gar nicht verstehen. Bei Josseph lag ein gewisses Fernhalten von dem Ghetto-
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/103>, abgerufen am 20.07.2024. |