Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

In dieser Woche war der Lehrer an den Schluß des 5. B. M. gekommen. Schon in der Synagoge hatte Josseph diesen letzten Wochenabschnitt, der groß und gewaltig wie ein stolzer Siegesgesang tönt, gehört; mit geheimnißvoller Gewalt drängte es ihn heran, ihn noch einmal zu vernehmen; alle Schauer des gottgegebenen Wortes noch einmal über sein Haupt hinrauschen zu lassen.

Der Knabe lernte die Stelle:

Daß nicht vielleicht ein Mann oder ein Weib, oder ein Gesinde oder ein Stamm unter euch sei, dessen Herz sich heute von dem Herrn, unserem Gotte, gewandt hat, daß es hingehe und diene den Göttern dieser Völker, und werde vielleicht eine Wurzel unter euch, die da Galle und Wermuth trage.

Vielleicht? murmelte Josseph drin in seinem Gewölbe, durch dessen offene Thür er den ganzen Unterricht belauschen konnte.

Was ist das für eine Wurzel, Herr Lehrer? fragte Fischele, nachdem er den hebräischen Urtext in hochdeutsche Worte gebracht hatte. Was ist das für eine Wurzel, die Galle und Wermuth trägt, und wie ist das zu verstehen?

Josseph horchte auf; alle seine Sinne waren auf der Lauer.

Das ist nur sinnbildlich gemeint, erklärte der Lehrer; derjenige, hat Moses geglaubt, der abfällt vom Judenthume und zu den Heiden übergeht -- denn wie

In dieser Woche war der Lehrer an den Schluß des 5. B. M. gekommen. Schon in der Synagoge hatte Josseph diesen letzten Wochenabschnitt, der groß und gewaltig wie ein stolzer Siegesgesang tönt, gehört; mit geheimnißvoller Gewalt drängte es ihn heran, ihn noch einmal zu vernehmen; alle Schauer des gottgegebenen Wortes noch einmal über sein Haupt hinrauschen zu lassen.

Der Knabe lernte die Stelle:

Daß nicht vielleicht ein Mann oder ein Weib, oder ein Gesinde oder ein Stamm unter euch sei, dessen Herz sich heute von dem Herrn, unserem Gotte, gewandt hat, daß es hingehe und diene den Göttern dieser Völker, und werde vielleicht eine Wurzel unter euch, die da Galle und Wermuth trage.

Vielleicht? murmelte Josseph drin in seinem Gewölbe, durch dessen offene Thür er den ganzen Unterricht belauschen konnte.

Was ist das für eine Wurzel, Herr Lehrer? fragte Fischele, nachdem er den hebräischen Urtext in hochdeutsche Worte gebracht hatte. Was ist das für eine Wurzel, die Galle und Wermuth trägt, und wie ist das zu verstehen?

Josseph horchte auf; alle seine Sinne waren auf der Lauer.

Das ist nur sinnbildlich gemeint, erklärte der Lehrer; derjenige, hat Moses geglaubt, der abfällt vom Judenthume und zu den Heiden übergeht — denn wie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="7">
        <pb facs="#f0106"/>
        <p>In dieser Woche war der Lehrer an den Schluß des 5. B. M. gekommen. Schon in der                Synagoge hatte Josseph diesen letzten Wochenabschnitt, der groß und gewaltig wie ein                stolzer Siegesgesang tönt, gehört; mit geheimnißvoller Gewalt drängte es ihn heran,                ihn noch einmal zu vernehmen; alle Schauer des gottgegebenen Wortes noch einmal über                sein Haupt hinrauschen zu lassen.</p><lb/>
        <p>Der Knabe lernte die Stelle:</p><lb/>
        <p>Daß nicht vielleicht ein Mann oder ein Weib, oder ein Gesinde oder ein Stamm unter                euch sei, dessen Herz sich heute von dem Herrn, unserem Gotte, gewandt hat, daß es                hingehe und diene den Göttern dieser Völker, und werde vielleicht eine Wurzel unter                euch, die da Galle und Wermuth trage.</p><lb/>
        <p>Vielleicht? murmelte Josseph drin in seinem Gewölbe, durch dessen offene Thür er den                ganzen Unterricht belauschen konnte.</p><lb/>
        <p>Was ist das für eine Wurzel, Herr Lehrer? fragte Fischele, nachdem er den hebräischen                Urtext in hochdeutsche Worte gebracht hatte. Was ist das für eine Wurzel, die Galle                und Wermuth trägt, und wie ist das zu verstehen?</p><lb/>
        <p>Josseph horchte auf; alle seine Sinne waren auf der Lauer.</p><lb/>
        <p>Das ist nur sinnbildlich gemeint, erklärte der Lehrer; derjenige, hat Moses geglaubt,                der abfällt vom Judenthume und zu den Heiden übergeht &#x2014; denn wie<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0106] In dieser Woche war der Lehrer an den Schluß des 5. B. M. gekommen. Schon in der Synagoge hatte Josseph diesen letzten Wochenabschnitt, der groß und gewaltig wie ein stolzer Siegesgesang tönt, gehört; mit geheimnißvoller Gewalt drängte es ihn heran, ihn noch einmal zu vernehmen; alle Schauer des gottgegebenen Wortes noch einmal über sein Haupt hinrauschen zu lassen. Der Knabe lernte die Stelle: Daß nicht vielleicht ein Mann oder ein Weib, oder ein Gesinde oder ein Stamm unter euch sei, dessen Herz sich heute von dem Herrn, unserem Gotte, gewandt hat, daß es hingehe und diene den Göttern dieser Völker, und werde vielleicht eine Wurzel unter euch, die da Galle und Wermuth trage. Vielleicht? murmelte Josseph drin in seinem Gewölbe, durch dessen offene Thür er den ganzen Unterricht belauschen konnte. Was ist das für eine Wurzel, Herr Lehrer? fragte Fischele, nachdem er den hebräischen Urtext in hochdeutsche Worte gebracht hatte. Was ist das für eine Wurzel, die Galle und Wermuth trägt, und wie ist das zu verstehen? Josseph horchte auf; alle seine Sinne waren auf der Lauer. Das ist nur sinnbildlich gemeint, erklärte der Lehrer; derjenige, hat Moses geglaubt, der abfällt vom Judenthume und zu den Heiden übergeht — denn wie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/106
Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/106>, abgerufen am 04.12.2024.