Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.anvertrauten Geheimnisse einer Menschenseele nicht entheiligen wollte, hat dem Volke das Schweigen vergöttlicht. Unter zehn leidenden Herzen giebt es nur eines, das geneigt ist, seinen Jammer laut und vor aller Welt auszusprechen, die anderen suchen sich "auszuschweigen", oder der heilige Priester mit dem Sternenkranze um das Haupt -- tröstet sie. Tausend Hände sind jederzeit geschäftig, den Heiligen zu schmücken, ihm Blumensträuße darzubringen, farbige Lämpchen anzuzünden, grünes Laubwerk in verschlungenen Zierathen um seine Bildsäule zu schlingen; denn tausend Herzen bewegt es in trauriger Ahnung, daß sie im Laufe des Jahres leidens- und schmerzvoll vor dem bleichen Priester schlagen werden, und die Lieder, die sie ihm am Jahrestage seiner Heiligwerdung singen, die Blumen, mit denen sie ihn bekränzen, halb hat sie die Ehrfurcht, halb die Bestechung dargebracht. Das Fest des heiligen Johann von Nepomuk kam als eine böse Stunde für Josseph. Die Procession, die aus der Kirche nach der Brücke zu sich bewegte, ging an seinen Fenstern vorüber. Schallende und weithin läutende Glocken, flatternde Kirchenfahnen, brausende Gesänge, die über Wiese und Feld hinüber tönten und die Lerche herausforderten aus dem Blau des Himmels, wo sie verborgen ihr schmetterndes Lied sang! -- Und in der langen Reihe der frommen Schaar, die lobpreisend und singend zu dem Heiligen auf der Brücke zog, -- auch Madlena! anvertrauten Geheimnisse einer Menschenseele nicht entheiligen wollte, hat dem Volke das Schweigen vergöttlicht. Unter zehn leidenden Herzen giebt es nur eines, das geneigt ist, seinen Jammer laut und vor aller Welt auszusprechen, die anderen suchen sich „auszuschweigen“, oder der heilige Priester mit dem Sternenkranze um das Haupt — tröstet sie. Tausend Hände sind jederzeit geschäftig, den Heiligen zu schmücken, ihm Blumensträuße darzubringen, farbige Lämpchen anzuzünden, grünes Laubwerk in verschlungenen Zierathen um seine Bildsäule zu schlingen; denn tausend Herzen bewegt es in trauriger Ahnung, daß sie im Laufe des Jahres leidens- und schmerzvoll vor dem bleichen Priester schlagen werden, und die Lieder, die sie ihm am Jahrestage seiner Heiligwerdung singen, die Blumen, mit denen sie ihn bekränzen, halb hat sie die Ehrfurcht, halb die Bestechung dargebracht. Das Fest des heiligen Johann von Nepomuk kam als eine böse Stunde für Josseph. Die Procession, die aus der Kirche nach der Brücke zu sich bewegte, ging an seinen Fenstern vorüber. Schallende und weithin läutende Glocken, flatternde Kirchenfahnen, brausende Gesänge, die über Wiese und Feld hinüber tönten und die Lerche herausforderten aus dem Blau des Himmels, wo sie verborgen ihr schmetterndes Lied sang! — Und in der langen Reihe der frommen Schaar, die lobpreisend und singend zu dem Heiligen auf der Brücke zog, — auch Madlena! <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="10"> <p><pb facs="#f0140"/> anvertrauten Geheimnisse einer Menschenseele nicht entheiligen wollte, hat dem Volke das Schweigen vergöttlicht. Unter zehn leidenden Herzen giebt es nur eines, das geneigt ist, seinen Jammer laut und vor aller Welt auszusprechen, die anderen suchen sich „auszuschweigen“, oder der heilige Priester mit dem Sternenkranze um das Haupt — tröstet sie.</p><lb/> <p>Tausend Hände sind jederzeit geschäftig, den Heiligen zu schmücken, ihm Blumensträuße darzubringen, farbige Lämpchen anzuzünden, grünes Laubwerk in verschlungenen Zierathen um seine Bildsäule zu schlingen; denn tausend Herzen bewegt es in trauriger Ahnung, daß sie im Laufe des Jahres leidens- und schmerzvoll vor dem bleichen Priester schlagen werden, und die Lieder, die sie ihm am Jahrestage seiner Heiligwerdung singen, die Blumen, mit denen sie ihn bekränzen, halb hat sie die Ehrfurcht, halb die Bestechung dargebracht.</p><lb/> <p>Das Fest des heiligen Johann von Nepomuk kam als eine böse Stunde für Josseph.</p><lb/> <p>Die Procession, die aus der Kirche nach der Brücke zu sich bewegte, ging an seinen Fenstern vorüber. Schallende und weithin läutende Glocken, flatternde Kirchenfahnen, brausende Gesänge, die über Wiese und Feld hinüber tönten und die Lerche herausforderten aus dem Blau des Himmels, wo sie verborgen ihr schmetterndes Lied sang! — Und in der langen Reihe der frommen Schaar, die lobpreisend und singend zu dem Heiligen auf der Brücke zog, — auch Madlena!</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0140]
anvertrauten Geheimnisse einer Menschenseele nicht entheiligen wollte, hat dem Volke das Schweigen vergöttlicht. Unter zehn leidenden Herzen giebt es nur eines, das geneigt ist, seinen Jammer laut und vor aller Welt auszusprechen, die anderen suchen sich „auszuschweigen“, oder der heilige Priester mit dem Sternenkranze um das Haupt — tröstet sie.
Tausend Hände sind jederzeit geschäftig, den Heiligen zu schmücken, ihm Blumensträuße darzubringen, farbige Lämpchen anzuzünden, grünes Laubwerk in verschlungenen Zierathen um seine Bildsäule zu schlingen; denn tausend Herzen bewegt es in trauriger Ahnung, daß sie im Laufe des Jahres leidens- und schmerzvoll vor dem bleichen Priester schlagen werden, und die Lieder, die sie ihm am Jahrestage seiner Heiligwerdung singen, die Blumen, mit denen sie ihn bekränzen, halb hat sie die Ehrfurcht, halb die Bestechung dargebracht.
Das Fest des heiligen Johann von Nepomuk kam als eine böse Stunde für Josseph.
Die Procession, die aus der Kirche nach der Brücke zu sich bewegte, ging an seinen Fenstern vorüber. Schallende und weithin läutende Glocken, flatternde Kirchenfahnen, brausende Gesänge, die über Wiese und Feld hinüber tönten und die Lerche herausforderten aus dem Blau des Himmels, wo sie verborgen ihr schmetterndes Lied sang! — Und in der langen Reihe der frommen Schaar, die lobpreisend und singend zu dem Heiligen auf der Brücke zog, — auch Madlena!
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/140>, abgerufen am 17.07.2024. |