Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.lobpreis't, daß er die Sünden vergiebt. Mit kräftiger Faust schlug dabei Josseph an seine Brust, daß es in der Stube wiederhallte und die Großmutter nur durch den Umstand, daß ihr Sohn nicht antworten durfte, von der Frage zurückgehalten wurde, ob denn heute Jom Kippur wäre? Ueberhaupt wollte es sie bedünken, habe Josseph noch nie so lange geort, wie gerade heute; selbst nachdem er schon die Gebetriemen vom Kopfe und dem linken Arme herabgenommen, holte er erst die Psalmen herbei. Ein tiefer, aus innerster Brust heraufsteigender Seufzer beschloß die lange Reihe der königlichen Klagegesänge, die für diesen Tag bestimmt waren. Wohl niemals hatten sie ein verwandteres Menschenherz berührt, und der heiße Schmerz, der in ihnen seine abgehärmten Wangen dem Himmel zeigt, war er nicht auch Josseph's? Kaum hatte Josseph das Psalmenbüchlein auf den bestaubten Kleiderkasten gelegt, wo es seinen gewöhnlichen Ort hatte, so brach die alte Frau, gleichsam als wenn sie es vorbereitet hätte, in ein kicherndes Gelächter aus, daß Josseph sich verwundert umsah, im ersten Augenblicke wähnend, die Mutter müsse nicht recht "sinnedig" sein. Guckst mich an? sagte sie noch immer kichernd, als ob die alte Marjim auf einmal wär' von ihren Sinnen kommen? Soll ich dir aber etwas Schönes verzählen, und wer heut' Nacht zu mir ist gekommen? lobpreis't, daß er die Sünden vergiebt. Mit kräftiger Faust schlug dabei Josseph an seine Brust, daß es in der Stube wiederhallte und die Großmutter nur durch den Umstand, daß ihr Sohn nicht antworten durfte, von der Frage zurückgehalten wurde, ob denn heute Jom Kippur wäre? Ueberhaupt wollte es sie bedünken, habe Josseph noch nie so lange geort, wie gerade heute; selbst nachdem er schon die Gebetriemen vom Kopfe und dem linken Arme herabgenommen, holte er erst die Psalmen herbei. Ein tiefer, aus innerster Brust heraufsteigender Seufzer beschloß die lange Reihe der königlichen Klagegesänge, die für diesen Tag bestimmt waren. Wohl niemals hatten sie ein verwandteres Menschenherz berührt, und der heiße Schmerz, der in ihnen seine abgehärmten Wangen dem Himmel zeigt, war er nicht auch Josseph's? Kaum hatte Josseph das Psalmenbüchlein auf den bestaubten Kleiderkasten gelegt, wo es seinen gewöhnlichen Ort hatte, so brach die alte Frau, gleichsam als wenn sie es vorbereitet hätte, in ein kicherndes Gelächter aus, daß Josseph sich verwundert umsah, im ersten Augenblicke wähnend, die Mutter müsse nicht recht „sinnedig“ sein. Guckst mich an? sagte sie noch immer kichernd, als ob die alte Marjim auf einmal wär' von ihren Sinnen kommen? Soll ich dir aber etwas Schönes verzählen, und wer heut' Nacht zu mir ist gekommen? <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="12"> <p><pb facs="#f0166"/> lobpreis't, daß er die Sünden vergiebt. Mit kräftiger Faust schlug dabei Josseph an seine Brust, daß es in der Stube wiederhallte und die Großmutter nur durch den Umstand, daß ihr Sohn nicht antworten durfte, von der Frage zurückgehalten wurde, ob denn heute Jom Kippur wäre? Ueberhaupt wollte es sie bedünken, habe Josseph noch nie so lange geort, wie gerade heute; selbst nachdem er schon die Gebetriemen vom Kopfe und dem linken Arme herabgenommen, holte er erst die Psalmen herbei. Ein tiefer, aus innerster Brust heraufsteigender Seufzer beschloß die lange Reihe der königlichen Klagegesänge, die für diesen Tag bestimmt waren. Wohl niemals hatten sie ein verwandteres Menschenherz berührt, und der heiße Schmerz, der in ihnen seine abgehärmten Wangen dem Himmel zeigt, war er nicht auch Josseph's?</p><lb/> <p>Kaum hatte Josseph das Psalmenbüchlein auf den bestaubten Kleiderkasten gelegt, wo es seinen gewöhnlichen Ort hatte, so brach die alte Frau, gleichsam als wenn sie es vorbereitet hätte, in ein kicherndes Gelächter aus, daß Josseph sich verwundert umsah, im ersten Augenblicke wähnend, die Mutter müsse nicht recht „sinnedig“ sein.</p><lb/> <p>Guckst mich an? sagte sie noch immer kichernd, als ob die alte Marjim auf einmal wär' von ihren Sinnen kommen? Soll ich dir aber etwas Schönes verzählen, und wer heut' Nacht zu mir ist gekommen?</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0166]
lobpreis't, daß er die Sünden vergiebt. Mit kräftiger Faust schlug dabei Josseph an seine Brust, daß es in der Stube wiederhallte und die Großmutter nur durch den Umstand, daß ihr Sohn nicht antworten durfte, von der Frage zurückgehalten wurde, ob denn heute Jom Kippur wäre? Ueberhaupt wollte es sie bedünken, habe Josseph noch nie so lange geort, wie gerade heute; selbst nachdem er schon die Gebetriemen vom Kopfe und dem linken Arme herabgenommen, holte er erst die Psalmen herbei. Ein tiefer, aus innerster Brust heraufsteigender Seufzer beschloß die lange Reihe der königlichen Klagegesänge, die für diesen Tag bestimmt waren. Wohl niemals hatten sie ein verwandteres Menschenherz berührt, und der heiße Schmerz, der in ihnen seine abgehärmten Wangen dem Himmel zeigt, war er nicht auch Josseph's?
Kaum hatte Josseph das Psalmenbüchlein auf den bestaubten Kleiderkasten gelegt, wo es seinen gewöhnlichen Ort hatte, so brach die alte Frau, gleichsam als wenn sie es vorbereitet hätte, in ein kicherndes Gelächter aus, daß Josseph sich verwundert umsah, im ersten Augenblicke wähnend, die Mutter müsse nicht recht „sinnedig“ sein.
Guckst mich an? sagte sie noch immer kichernd, als ob die alte Marjim auf einmal wär' von ihren Sinnen kommen? Soll ich dir aber etwas Schönes verzählen, und wer heut' Nacht zu mir ist gekommen?
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-15T13:25:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-15T13:25:39Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |