Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Freilich haben Sie Recht, Rebb Josseph, wenn Sie meinen, daß es gleichgültig ist, wer das geschrieben hat, Ihr Urdede oder Christus oder der Evangelist Mathias. Ich frage Sie nur: wer war Ihr Urdede? ein Jude; wer war Jesus oder, wie Ihr Urgroßvater geschrieben hat, Jischai, der Sohn des Josseph und der Marjim? ein Jude; wer war der Evangelist Mathias? auch einer -- Mit dem kommen Sie mir nicht, Herr Lehrer, entgegnete Josseph mit verfinstertem Antlitz, mit dem nicht. Mit Ihrer Philosophie ist bei mir nichts auszurichten, ich weiß jetzt selbst, was zu thun ist. Damit empfahl er sich dem Lehrer und ging. Julius Arnsteiner hatte nichts Eiligeres zu thun, als im ganzen Ghetto umherzulaufen und mit lachendem Munde den Leuten zu erzählen, wie der Landjüd etwas für das Werk seines Urdede gehalten, was eigentlich das Evangelium Matthäi gewesen sei. Josseph schritt indeß rasch auf das Dorf zu; er schaute niemals zurück; sein früher erdfahles Gesicht war mit hoher Röthe bedeckt. War seine Brust frei? Fühlte er, daß die alte Kraft wieder gewonnen war? Er gedachte noch heute mit Madlena zu sprechen. Freilich haben Sie Recht, Rebb Josseph, wenn Sie meinen, daß es gleichgültig ist, wer das geschrieben hat, Ihr Urdede oder Christus oder der Evangelist Mathias. Ich frage Sie nur: wer war Ihr Urdede? ein Jude; wer war Jesus oder, wie Ihr Urgroßvater geschrieben hat, Jischai, der Sohn des Josseph und der Marjim? ein Jude; wer war der Evangelist Mathias? auch einer — Mit dem kommen Sie mir nicht, Herr Lehrer, entgegnete Josseph mit verfinstertem Antlitz, mit dem nicht. Mit Ihrer Philosophie ist bei mir nichts auszurichten, ich weiß jetzt selbst, was zu thun ist. Damit empfahl er sich dem Lehrer und ging. Julius Arnsteiner hatte nichts Eiligeres zu thun, als im ganzen Ghetto umherzulaufen und mit lachendem Munde den Leuten zu erzählen, wie der Landjüd etwas für das Werk seines Urdede gehalten, was eigentlich das Evangelium Matthäi gewesen sei. Josseph schritt indeß rasch auf das Dorf zu; er schaute niemals zurück; sein früher erdfahles Gesicht war mit hoher Röthe bedeckt. War seine Brust frei? Fühlte er, daß die alte Kraft wieder gewonnen war? Er gedachte noch heute mit Madlena zu sprechen. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="13"> <pb facs="#f0195"/> <p>Freilich haben Sie Recht, Rebb Josseph, wenn Sie meinen, daß es gleichgültig ist, wer das geschrieben hat, Ihr Urdede oder Christus oder der Evangelist Mathias. Ich frage Sie nur: wer war Ihr Urdede? ein Jude; wer war Jesus oder, wie Ihr Urgroßvater geschrieben hat, Jischai, der Sohn des Josseph und der Marjim? ein Jude; wer war der Evangelist Mathias? auch einer —</p><lb/> <p>Mit dem kommen Sie mir nicht, Herr Lehrer, entgegnete Josseph mit verfinstertem Antlitz, mit dem nicht. Mit Ihrer Philosophie ist bei mir nichts auszurichten, ich weiß jetzt selbst, was zu thun ist.</p><lb/> <p>Damit empfahl er sich dem Lehrer und ging.</p><lb/> <p>Julius Arnsteiner hatte nichts Eiligeres zu thun, als im ganzen Ghetto umherzulaufen und mit lachendem Munde den Leuten zu erzählen, wie der Landjüd etwas für das Werk seines Urdede gehalten, was eigentlich das Evangelium Matthäi gewesen sei.</p><lb/> <p>Josseph schritt indeß rasch auf das Dorf zu; er schaute niemals zurück; sein früher erdfahles Gesicht war mit hoher Röthe bedeckt. War seine Brust frei? Fühlte er, daß die alte Kraft wieder gewonnen war? Er gedachte noch heute mit Madlena zu sprechen.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0195]
Freilich haben Sie Recht, Rebb Josseph, wenn Sie meinen, daß es gleichgültig ist, wer das geschrieben hat, Ihr Urdede oder Christus oder der Evangelist Mathias. Ich frage Sie nur: wer war Ihr Urdede? ein Jude; wer war Jesus oder, wie Ihr Urgroßvater geschrieben hat, Jischai, der Sohn des Josseph und der Marjim? ein Jude; wer war der Evangelist Mathias? auch einer —
Mit dem kommen Sie mir nicht, Herr Lehrer, entgegnete Josseph mit verfinstertem Antlitz, mit dem nicht. Mit Ihrer Philosophie ist bei mir nichts auszurichten, ich weiß jetzt selbst, was zu thun ist.
Damit empfahl er sich dem Lehrer und ging.
Julius Arnsteiner hatte nichts Eiligeres zu thun, als im ganzen Ghetto umherzulaufen und mit lachendem Munde den Leuten zu erzählen, wie der Landjüd etwas für das Werk seines Urdede gehalten, was eigentlich das Evangelium Matthäi gewesen sei.
Josseph schritt indeß rasch auf das Dorf zu; er schaute niemals zurück; sein früher erdfahles Gesicht war mit hoher Röthe bedeckt. War seine Brust frei? Fühlte er, daß die alte Kraft wieder gewonnen war? Er gedachte noch heute mit Madlena zu sprechen.
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/195>, abgerufen am 16.07.2024. |