Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Es war Abend geworden und die Sonne hatte sich von dem Hause entfernt, in dem eine Sterbende lag, die ihres Strahlenlebens nicht mehr bedurfte. Da erwachte die alte Frau, fast um denselben Augenblick, als das letzte Gold der scheidenden Himmelsflamme über die Fenster glitt.

Ihr erstes Wort, das sie an Madlena richtete, war:

Laß mir jetzt deine Kinder und deinen Pawel kommen, der ist doch auch mein Schwiegersohn, und ich möcht' den auch sehen, lang dauert's ohnehin nicht mehr.

Madlena schrie laut auf und fiel, die niederhängende Hand Marjim's stürmisch küssend, am Bette nieder. Sie verstand dieses letzte Liebeswerk der Mutter, das in Erfüllung ging, noch ehe sie es ausgesprochen!

Die Kinder kamen, auch Pawel. Als dieser mit einiger Befangenheit an das Bett der Sterbenden trat, sah ihn Marjim einige Augenblicke scharf an, als wollte sie in das Innerste seiner Seele einen prüfenden Blick werfen, dann sagte sie mit heller Stimme:

Du scheinst mir ein guter Mensch zu sein, Pawel, aber was für ein Weib hast du auch bekommen!

Josseph mußte dann herantreten.

Wir zwei, sagte sie zu ihm mit leuchtenden Blicken, wir zwei kennen uns, ich hab' dir nichts weiter zu sagen.

Sie fragte ihn dann, ob er nichts dagegen habe, wenn sie Madlena's Kinder früher benschen würde, als sein Fischele; denn jene bekämen doch jetzt nur zum

Es war Abend geworden und die Sonne hatte sich von dem Hause entfernt, in dem eine Sterbende lag, die ihres Strahlenlebens nicht mehr bedurfte. Da erwachte die alte Frau, fast um denselben Augenblick, als das letzte Gold der scheidenden Himmelsflamme über die Fenster glitt.

Ihr erstes Wort, das sie an Madlena richtete, war:

Laß mir jetzt deine Kinder und deinen Pawel kommen, der ist doch auch mein Schwiegersohn, und ich möcht' den auch sehen, lang dauert's ohnehin nicht mehr.

Madlena schrie laut auf und fiel, die niederhängende Hand Marjim's stürmisch küssend, am Bette nieder. Sie verstand dieses letzte Liebeswerk der Mutter, das in Erfüllung ging, noch ehe sie es ausgesprochen!

Die Kinder kamen, auch Pawel. Als dieser mit einiger Befangenheit an das Bett der Sterbenden trat, sah ihn Marjim einige Augenblicke scharf an, als wollte sie in das Innerste seiner Seele einen prüfenden Blick werfen, dann sagte sie mit heller Stimme:

Du scheinst mir ein guter Mensch zu sein, Pawel, aber was für ein Weib hast du auch bekommen!

Josseph mußte dann herantreten.

Wir zwei, sagte sie zu ihm mit leuchtenden Blicken, wir zwei kennen uns, ich hab' dir nichts weiter zu sagen.

Sie fragte ihn dann, ob er nichts dagegen habe, wenn sie Madlena's Kinder früher benschen würde, als sein Fischele; denn jene bekämen doch jetzt nur zum

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="15">
        <pb facs="#f0213"/>
        <p>Es war Abend geworden und die Sonne hatte sich von dem Hause entfernt, in dem eine                Sterbende lag, die ihres Strahlenlebens nicht mehr bedurfte. Da erwachte die alte                Frau, fast um denselben Augenblick, als das letzte Gold der scheidenden Himmelsflamme                über die Fenster glitt.</p><lb/>
        <p>Ihr erstes Wort, das sie an Madlena richtete, war:</p><lb/>
        <p>Laß mir jetzt deine Kinder und deinen Pawel kommen, der ist doch auch mein                Schwiegersohn, und ich möcht' den auch sehen, lang dauert's ohnehin nicht mehr.</p><lb/>
        <p>Madlena schrie laut auf und fiel, die niederhängende Hand Marjim's stürmisch küssend,                am Bette nieder. Sie verstand dieses letzte Liebeswerk der Mutter, das in Erfüllung                ging, noch ehe sie es ausgesprochen!</p><lb/>
        <p>Die Kinder kamen, auch Pawel. Als dieser mit einiger Befangenheit an das Bett der                Sterbenden trat, sah ihn Marjim einige Augenblicke scharf an, als wollte sie in das                Innerste seiner Seele einen prüfenden Blick werfen, dann sagte sie mit heller                Stimme:</p><lb/>
        <p>Du scheinst mir ein guter Mensch zu sein, Pawel, aber was für ein Weib hast du auch                bekommen!</p><lb/>
        <p>Josseph mußte dann herantreten.</p><lb/>
        <p>Wir zwei, sagte sie zu ihm mit leuchtenden Blicken, wir zwei kennen uns, ich hab' dir                nichts weiter zu sagen.</p><lb/>
        <p>Sie fragte ihn dann, ob er nichts dagegen habe, wenn sie Madlena's Kinder früher                benschen würde, als sein Fischele; denn jene bekämen doch jetzt nur zum<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0213] Es war Abend geworden und die Sonne hatte sich von dem Hause entfernt, in dem eine Sterbende lag, die ihres Strahlenlebens nicht mehr bedurfte. Da erwachte die alte Frau, fast um denselben Augenblick, als das letzte Gold der scheidenden Himmelsflamme über die Fenster glitt. Ihr erstes Wort, das sie an Madlena richtete, war: Laß mir jetzt deine Kinder und deinen Pawel kommen, der ist doch auch mein Schwiegersohn, und ich möcht' den auch sehen, lang dauert's ohnehin nicht mehr. Madlena schrie laut auf und fiel, die niederhängende Hand Marjim's stürmisch küssend, am Bette nieder. Sie verstand dieses letzte Liebeswerk der Mutter, das in Erfüllung ging, noch ehe sie es ausgesprochen! Die Kinder kamen, auch Pawel. Als dieser mit einiger Befangenheit an das Bett der Sterbenden trat, sah ihn Marjim einige Augenblicke scharf an, als wollte sie in das Innerste seiner Seele einen prüfenden Blick werfen, dann sagte sie mit heller Stimme: Du scheinst mir ein guter Mensch zu sein, Pawel, aber was für ein Weib hast du auch bekommen! Josseph mußte dann herantreten. Wir zwei, sagte sie zu ihm mit leuchtenden Blicken, wir zwei kennen uns, ich hab' dir nichts weiter zu sagen. Sie fragte ihn dann, ob er nichts dagegen habe, wenn sie Madlena's Kinder früher benschen würde, als sein Fischele; denn jene bekämen doch jetzt nur zum

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/213
Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/213>, abgerufen am 23.11.2024.