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Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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stoßen: schwebt über diesen wilden Gewässern immer höher schwellender Fluten der Geist des Friedens und der Erlösung?

Aus Millionen wählt euch diesen einzigen Dorfjuden heraus und stellet ihn von Angesicht zu Angesicht dem ewigen Traume von Menschenverständigung gegenüber. Er hat ein schweres Unrecht an seinem eigenen Blute begangen -- welche finstere Mächte weben ihre geheimnißvollen Ringe um sein Haupt, daß er zum Erkennen seiner Schuld nicht gelangt?

Er fürchtet die beleidigte Kirche mehr, als die Thränen seiner Mutter, als den Zorn seines eigenen Gewissens. -- O unbegreifliches Walten der Menschennatur!

Josseph war der lebendigsten Ueberzeugung, kein Anderer als Madlena selbst könne ihn beim Pfarrer verklagt haben; wer könne und würde sich ihrer angenommen haben, als der Pfarrer selbst, der ihr seinen Schutz geben mußte!

Wie wenige Menschen hätten in einer ähnlichen Lage anders gedacht! --

Es traf sich an diesem Tage gut, daß Josseph den Sterbetag seines Vaters mit Fasten beging, er brauchte darum keinem Menschen unter die Augen zu treten, am allerwenigsten seiner Mutter; er konnte so ungestört sich dem peinlichen Gedankenleben hingeben, das sich an diesem Tage über sein ganzes Leben wie ein dichter Nebel gelagert hatte.

stoßen: schwebt über diesen wilden Gewässern immer höher schwellender Fluten der Geist des Friedens und der Erlösung?

Aus Millionen wählt euch diesen einzigen Dorfjuden heraus und stellet ihn von Angesicht zu Angesicht dem ewigen Traume von Menschenverständigung gegenüber. Er hat ein schweres Unrecht an seinem eigenen Blute begangen — welche finstere Mächte weben ihre geheimnißvollen Ringe um sein Haupt, daß er zum Erkennen seiner Schuld nicht gelangt?

Er fürchtet die beleidigte Kirche mehr, als die Thränen seiner Mutter, als den Zorn seines eigenen Gewissens. — O unbegreifliches Walten der Menschennatur!

Josseph war der lebendigsten Ueberzeugung, kein Anderer als Madlena selbst könne ihn beim Pfarrer verklagt haben; wer könne und würde sich ihrer angenommen haben, als der Pfarrer selbst, der ihr seinen Schutz geben mußte!

Wie wenige Menschen hätten in einer ähnlichen Lage anders gedacht! —

Es traf sich an diesem Tage gut, daß Josseph den Sterbetag seines Vaters mit Fasten beging, er brauchte darum keinem Menschen unter die Augen zu treten, am allerwenigsten seiner Mutter; er konnte so ungestört sich dem peinlichen Gedankenleben hingeben, das sich an diesem Tage über sein ganzes Leben wie ein dichter Nebel gelagert hatte.

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[0070] stoßen: schwebt über diesen wilden Gewässern immer höher schwellender Fluten der Geist des Friedens und der Erlösung? Aus Millionen wählt euch diesen einzigen Dorfjuden heraus und stellet ihn von Angesicht zu Angesicht dem ewigen Traume von Menschenverständigung gegenüber. Er hat ein schweres Unrecht an seinem eigenen Blute begangen — welche finstere Mächte weben ihre geheimnißvollen Ringe um sein Haupt, daß er zum Erkennen seiner Schuld nicht gelangt? Er fürchtet die beleidigte Kirche mehr, als die Thränen seiner Mutter, als den Zorn seines eigenen Gewissens. — O unbegreifliches Walten der Menschennatur! Josseph war der lebendigsten Ueberzeugung, kein Anderer als Madlena selbst könne ihn beim Pfarrer verklagt haben; wer könne und würde sich ihrer angenommen haben, als der Pfarrer selbst, der ihr seinen Schutz geben mußte! Wie wenige Menschen hätten in einer ähnlichen Lage anders gedacht! — Es traf sich an diesem Tage gut, daß Josseph den Sterbetag seines Vaters mit Fasten beging, er brauchte darum keinem Menschen unter die Augen zu treten, am allerwenigsten seiner Mutter; er konnte so ungestört sich dem peinlichen Gedankenleben hingeben, das sich an diesem Tage über sein ganzes Leben wie ein dichter Nebel gelagert hatte.

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/70>, abgerufen am 18.05.2024.