Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.das Geschoß der Vergeltung auf ihn gerichtet habe. Der Pfarrer mußte sich an ihm rächen, meinte er, seine Religion habe ihn ja dazu bestellt, daß er die Feindseligkeiten vergelte, die Andersglaubende gegen sie ersinnen! O heiliger Traum der Menschheit! Gedanke, der du leuchtend aus den sterbenden Augen der größten Männer drangst! Die Einen glauben dich bereits verwirklicht, wenn sie dich den allein selig machenden Gedanken nennen, der in dem Manne zu Rom seinen körperlichen Ausdruck bereits gefunden; die Anderen knüpfen die weichsten Fäden ihres Denkens an die Erscheinung eines Messias, der, um sie innerlich und äußerlich zu befreien, kommen soll, wenn es Zeit ist, daß die Menschen in einen Kreis treten, und auf Millionen Zungen nur eine Sprache lebe! Heiliger Traum der Menschenverständigung! Ist dieses Auseinanderdrängen der Gesellschaft nach den verschiedensten Richtungen, dieses planlose Aufgeben früher betretener Wege, dieses Schwanken und Beugen, als hätte der Weltgeist seine Lust daran, das Schiff der Menschheit auf sturmbewegter See fast umkommen zu lassen, ist das Alles nur der verhüllte Ausdruck deiner unsichtbar nahenden Verwirklichung? Wenn sich Vater und Sohn, Bruder und Bruder gegenüber stehen, auf Jedes Lippen ein anderer Wahlspruch, jeden Augenblick bereit, um des Gottes und des Wahlspruchs willen sich den Dolch in die Brust zu das Geschoß der Vergeltung auf ihn gerichtet habe. Der Pfarrer mußte sich an ihm rächen, meinte er, seine Religion habe ihn ja dazu bestellt, daß er die Feindseligkeiten vergelte, die Andersglaubende gegen sie ersinnen! O heiliger Traum der Menschheit! Gedanke, der du leuchtend aus den sterbenden Augen der größten Männer drangst! Die Einen glauben dich bereits verwirklicht, wenn sie dich den allein selig machenden Gedanken nennen, der in dem Manne zu Rom seinen körperlichen Ausdruck bereits gefunden; die Anderen knüpfen die weichsten Fäden ihres Denkens an die Erscheinung eines Messias, der, um sie innerlich und äußerlich zu befreien, kommen soll, wenn es Zeit ist, daß die Menschen in einen Kreis treten, und auf Millionen Zungen nur eine Sprache lebe! Heiliger Traum der Menschenverständigung! Ist dieses Auseinanderdrängen der Gesellschaft nach den verschiedensten Richtungen, dieses planlose Aufgeben früher betretener Wege, dieses Schwanken und Beugen, als hätte der Weltgeist seine Lust daran, das Schiff der Menschheit auf sturmbewegter See fast umkommen zu lassen, ist das Alles nur der verhüllte Ausdruck deiner unsichtbar nahenden Verwirklichung? Wenn sich Vater und Sohn, Bruder und Bruder gegenüber stehen, auf Jedes Lippen ein anderer Wahlspruch, jeden Augenblick bereit, um des Gottes und des Wahlspruchs willen sich den Dolch in die Brust zu <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <p><pb facs="#f0069"/> das Geschoß der Vergeltung auf ihn gerichtet habe. Der Pfarrer mußte sich an ihm rächen, meinte er, seine Religion habe ihn ja dazu bestellt, daß er die Feindseligkeiten vergelte, die Andersglaubende gegen sie ersinnen!</p><lb/> <p>O heiliger Traum der Menschheit! Gedanke, der du leuchtend aus den sterbenden Augen der größten Männer drangst! Die Einen glauben dich bereits verwirklicht, wenn sie dich den allein selig machenden Gedanken nennen, der in dem Manne zu Rom seinen körperlichen Ausdruck bereits gefunden; die Anderen knüpfen die weichsten Fäden ihres Denkens an die Erscheinung eines Messias, der, um sie innerlich und äußerlich zu befreien, kommen soll, wenn es Zeit ist, daß die Menschen in einen Kreis treten, und auf Millionen Zungen nur eine Sprache lebe!</p><lb/> <p>Heiliger Traum der Menschenverständigung! Ist dieses Auseinanderdrängen der Gesellschaft nach den verschiedensten Richtungen, dieses planlose Aufgeben früher betretener Wege, dieses Schwanken und Beugen, als hätte der Weltgeist seine Lust daran, das Schiff der Menschheit auf sturmbewegter See fast umkommen zu lassen, ist das Alles nur der verhüllte Ausdruck deiner unsichtbar nahenden Verwirklichung?</p><lb/> <p>Wenn sich Vater und Sohn, Bruder und Bruder gegenüber stehen, auf Jedes Lippen ein anderer Wahlspruch, jeden Augenblick bereit, um des Gottes und des Wahlspruchs willen sich den Dolch in die Brust zu<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0069]
das Geschoß der Vergeltung auf ihn gerichtet habe. Der Pfarrer mußte sich an ihm rächen, meinte er, seine Religion habe ihn ja dazu bestellt, daß er die Feindseligkeiten vergelte, die Andersglaubende gegen sie ersinnen!
O heiliger Traum der Menschheit! Gedanke, der du leuchtend aus den sterbenden Augen der größten Männer drangst! Die Einen glauben dich bereits verwirklicht, wenn sie dich den allein selig machenden Gedanken nennen, der in dem Manne zu Rom seinen körperlichen Ausdruck bereits gefunden; die Anderen knüpfen die weichsten Fäden ihres Denkens an die Erscheinung eines Messias, der, um sie innerlich und äußerlich zu befreien, kommen soll, wenn es Zeit ist, daß die Menschen in einen Kreis treten, und auf Millionen Zungen nur eine Sprache lebe!
Heiliger Traum der Menschenverständigung! Ist dieses Auseinanderdrängen der Gesellschaft nach den verschiedensten Richtungen, dieses planlose Aufgeben früher betretener Wege, dieses Schwanken und Beugen, als hätte der Weltgeist seine Lust daran, das Schiff der Menschheit auf sturmbewegter See fast umkommen zu lassen, ist das Alles nur der verhüllte Ausdruck deiner unsichtbar nahenden Verwirklichung?
Wenn sich Vater und Sohn, Bruder und Bruder gegenüber stehen, auf Jedes Lippen ein anderer Wahlspruch, jeden Augenblick bereit, um des Gottes und des Wahlspruchs willen sich den Dolch in die Brust zu
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/69>, abgerufen am 23.07.2024. |