Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.nehmen, aber ich ermahn' mich immer, was mein Urdede gesagt hat, wenn so etwas ist vorgefallen: Narrele, hat er gesagt, nicht sollst du wissen, was man Alles thun darf. Und mein Urdede war doch ein gewaltig großer und gelehrter Mann! Und willst du noch etwas wissen, Fischele Leben? Es ist mir schon manchmal eingefallen, daß es gar keine Sünd' sein muß, wenn man keinen Haß hat gegen das, was tausend Menschen vor unseren Augen thun. Ich hab' mir schon oft gedacht: Millionen und Millionen von Menschen gehen, Gott weiß schon, wie viel Jahr auf der Welt herum, der Eine macht so, der Andere so, und meint, er hat's damit gut gemacht, und Gott sieht das Tausende und Tausende von Jahren schon zu und läßt alle die Menschen wachsen und gedeihen. Hab' ich's denn geschrieben und mit rothem Triefwachs versiegelt und einen Stempel darauf, daß ich Gott damit einen Gefallen mache, wenn ich mich jachte (ärgere) über das, was Millionen und Milliassen von Menschen eine Freud' macht? Vielleicht hab' ich nicht Recht, und weil ich das nicht weiß, soll ich aus mir machen eine Maschin', die man hinschiebt und herschiebt und in der keine Seele ist? Red nicht so hoch, Babe, mahnte jetzt selbst der Knabe, an dem die Rede der Großmutter wie ein unsichtbarer Strom mit geheimnißvollem Rauschen vorüberging. Der ganzen Welt könnt' ich's jetzt sagen, wie mir ums Herz herum ist, sagte die alte Frau mit starker nehmen, aber ich ermahn' mich immer, was mein Urdede gesagt hat, wenn so etwas ist vorgefallen: Narrele, hat er gesagt, nicht sollst du wissen, was man Alles thun darf. Und mein Urdede war doch ein gewaltig großer und gelehrter Mann! Und willst du noch etwas wissen, Fischele Leben? Es ist mir schon manchmal eingefallen, daß es gar keine Sünd' sein muß, wenn man keinen Haß hat gegen das, was tausend Menschen vor unseren Augen thun. Ich hab' mir schon oft gedacht: Millionen und Millionen von Menschen gehen, Gott weiß schon, wie viel Jahr auf der Welt herum, der Eine macht so, der Andere so, und meint, er hat's damit gut gemacht, und Gott sieht das Tausende und Tausende von Jahren schon zu und läßt alle die Menschen wachsen und gedeihen. Hab' ich's denn geschrieben und mit rothem Triefwachs versiegelt und einen Stempel darauf, daß ich Gott damit einen Gefallen mache, wenn ich mich jachte (ärgere) über das, was Millionen und Milliassen von Menschen eine Freud' macht? Vielleicht hab' ich nicht Recht, und weil ich das nicht weiß, soll ich aus mir machen eine Maschin', die man hinschiebt und herschiebt und in der keine Seele ist? Red nicht so hoch, Babe, mahnte jetzt selbst der Knabe, an dem die Rede der Großmutter wie ein unsichtbarer Strom mit geheimnißvollem Rauschen vorüberging. Der ganzen Welt könnt' ich's jetzt sagen, wie mir ums Herz herum ist, sagte die alte Frau mit starker <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <p><pb facs="#f0073"/> nehmen, aber ich ermahn' mich immer, was mein Urdede gesagt hat, wenn so etwas ist vorgefallen: Narrele, hat er gesagt, nicht sollst du wissen, was man Alles thun darf. Und mein Urdede war doch ein gewaltig großer und gelehrter Mann! Und willst du noch etwas wissen, Fischele Leben? Es ist mir schon manchmal eingefallen, daß es gar keine Sünd' sein muß, wenn man keinen Haß hat gegen das, was tausend Menschen vor unseren Augen thun. Ich hab' mir schon oft gedacht: Millionen und Millionen von Menschen gehen, Gott weiß schon, wie viel Jahr auf der Welt herum, der Eine macht so, der Andere so, und meint, er hat's damit gut gemacht, und Gott sieht das Tausende und Tausende von Jahren schon zu und läßt alle die Menschen wachsen und gedeihen. Hab' ich's denn geschrieben und mit rothem Triefwachs versiegelt und einen Stempel darauf, daß ich Gott damit einen Gefallen mache, wenn ich mich jachte (ärgere) über das, was Millionen und Milliassen von Menschen eine Freud' macht? Vielleicht hab' ich nicht Recht, und weil ich das nicht weiß, soll ich aus mir machen eine Maschin', die man hinschiebt und herschiebt und in der keine Seele ist?</p><lb/> <p>Red nicht so hoch, Babe, mahnte jetzt selbst der Knabe, an dem die Rede der Großmutter wie ein unsichtbarer Strom mit geheimnißvollem Rauschen vorüberging.</p><lb/> <p>Der ganzen Welt könnt' ich's jetzt sagen, wie mir ums Herz herum ist, sagte die alte Frau mit starker<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0073]
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Red nicht so hoch, Babe, mahnte jetzt selbst der Knabe, an dem die Rede der Großmutter wie ein unsichtbarer Strom mit geheimnißvollem Rauschen vorüberging.
Der ganzen Welt könnt' ich's jetzt sagen, wie mir ums Herz herum ist, sagte die alte Frau mit starker
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/73>, abgerufen am 23.07.2024. |