Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.deinem Vater fürchtest? Gott behüt' dich, wenn du etwas gemacht hast, daß sich dein alter Vater darüber könnt' die Haare ausreißen. Großmutter, rief die Magd und richtete sich aus ihrer gebückten Stellung gerade auf; mit stolzen Augen blickte sie um sich. Großmutter, Ihr meint doch nicht, daß ich . . . als Amme werde in die Stadt gehen müssen? Eine starke Röthe, die trotz des Abenddunkels und der düstern Beleuchtung der Stube sichtbar ward, lag nach diesen Worten auf dem schönen Antlitze der Magd. Marjim hatte mit weiblichem Zartsinn augenblicklich begriffen, daß sie dem jungfräulichen Gefühle Anezka's mit ihrer Frage weh gethan; sie begriff es auch sogleich, wie ungerecht ihr Verdacht die Magd getroffen. Besänftigend sagte sie: Du mußt das nicht so nehmen, ich hab' das anders gemeint, und wenn man ein altes Weib ist, kommen einem ganz andere Sachen unter. Ich hab' dich auch darum gefragt, weil ich nicht möcht', daß meine Anezka Schande erlebt. Das vergiß also und red mir nicht davon. Wie kommt's aber doch, daß du fortgehen willst? Warum sagst du mir's nicht? Großmutter, ich kann's nicht, sagte die Magd, in Thränen ausbrechend. Marjim schüttelte schmerzlich den Kopf; sie vermochte nicht mehr weiter zu dringen. Sag lieber, sie darf nicht, sprach Josseph, der dem deinem Vater fürchtest? Gott behüt' dich, wenn du etwas gemacht hast, daß sich dein alter Vater darüber könnt' die Haare ausreißen. Großmutter, rief die Magd und richtete sich aus ihrer gebückten Stellung gerade auf; mit stolzen Augen blickte sie um sich. Großmutter, Ihr meint doch nicht, daß ich . . . als Amme werde in die Stadt gehen müssen? Eine starke Röthe, die trotz des Abenddunkels und der düstern Beleuchtung der Stube sichtbar ward, lag nach diesen Worten auf dem schönen Antlitze der Magd. Marjim hatte mit weiblichem Zartsinn augenblicklich begriffen, daß sie dem jungfräulichen Gefühle Anezka's mit ihrer Frage weh gethan; sie begriff es auch sogleich, wie ungerecht ihr Verdacht die Magd getroffen. Besänftigend sagte sie: Du mußt das nicht so nehmen, ich hab' das anders gemeint, und wenn man ein altes Weib ist, kommen einem ganz andere Sachen unter. Ich hab' dich auch darum gefragt, weil ich nicht möcht', daß meine Anezka Schande erlebt. Das vergiß also und red mir nicht davon. Wie kommt's aber doch, daß du fortgehen willst? Warum sagst du mir's nicht? Großmutter, ich kann's nicht, sagte die Magd, in Thränen ausbrechend. Marjim schüttelte schmerzlich den Kopf; sie vermochte nicht mehr weiter zu dringen. Sag lieber, sie darf nicht, sprach Josseph, der dem <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="6"> <p><pb facs="#f0093"/> deinem Vater fürchtest? Gott behüt' dich, wenn du etwas gemacht hast, daß sich dein alter Vater darüber könnt' die Haare ausreißen.</p><lb/> <p>Großmutter, rief die Magd und richtete sich aus ihrer gebückten Stellung gerade auf; mit stolzen Augen blickte sie um sich. Großmutter, Ihr meint doch nicht, daß ich . . . als Amme werde in die Stadt gehen müssen?</p><lb/> <p>Eine starke Röthe, die trotz des Abenddunkels und der düstern Beleuchtung der Stube sichtbar ward, lag nach diesen Worten auf dem schönen Antlitze der Magd.</p><lb/> <p>Marjim hatte mit weiblichem Zartsinn augenblicklich begriffen, daß sie dem jungfräulichen Gefühle Anezka's mit ihrer Frage weh gethan; sie begriff es auch sogleich, wie ungerecht ihr Verdacht die Magd getroffen. Besänftigend sagte sie:</p><lb/> <p>Du mußt das nicht so nehmen, ich hab' das anders gemeint, und wenn man ein altes Weib ist, kommen einem ganz andere Sachen unter. Ich hab' dich auch darum gefragt, weil ich nicht möcht', daß meine Anezka Schande erlebt. Das vergiß also und red mir nicht davon. Wie kommt's aber doch, daß du fortgehen willst? Warum sagst du mir's nicht?</p><lb/> <p>Großmutter, ich kann's nicht, sagte die Magd, in Thränen ausbrechend.</p><lb/> <p>Marjim schüttelte schmerzlich den Kopf; sie vermochte nicht mehr weiter zu dringen.</p><lb/> <p>Sag lieber, sie darf nicht, sprach Josseph, der dem<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0093]
deinem Vater fürchtest? Gott behüt' dich, wenn du etwas gemacht hast, daß sich dein alter Vater darüber könnt' die Haare ausreißen.
Großmutter, rief die Magd und richtete sich aus ihrer gebückten Stellung gerade auf; mit stolzen Augen blickte sie um sich. Großmutter, Ihr meint doch nicht, daß ich . . . als Amme werde in die Stadt gehen müssen?
Eine starke Röthe, die trotz des Abenddunkels und der düstern Beleuchtung der Stube sichtbar ward, lag nach diesen Worten auf dem schönen Antlitze der Magd.
Marjim hatte mit weiblichem Zartsinn augenblicklich begriffen, daß sie dem jungfräulichen Gefühle Anezka's mit ihrer Frage weh gethan; sie begriff es auch sogleich, wie ungerecht ihr Verdacht die Magd getroffen. Besänftigend sagte sie:
Du mußt das nicht so nehmen, ich hab' das anders gemeint, und wenn man ein altes Weib ist, kommen einem ganz andere Sachen unter. Ich hab' dich auch darum gefragt, weil ich nicht möcht', daß meine Anezka Schande erlebt. Das vergiß also und red mir nicht davon. Wie kommt's aber doch, daß du fortgehen willst? Warum sagst du mir's nicht?
Großmutter, ich kann's nicht, sagte die Magd, in Thränen ausbrechend.
Marjim schüttelte schmerzlich den Kopf; sie vermochte nicht mehr weiter zu dringen.
Sag lieber, sie darf nicht, sprach Josseph, der dem
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/93>, abgerufen am 21.07.2024. |