Kosegarten, Ludwig Gotthard: Poesieen. Bd. 3. Leipzig, 1802.Wo sind nun die täuschenden Gebilde, Wo die Gaukel meiner Fantasie? Wo die Füll' und Frisch' und Huld und Milde, Falsche, die des Dichters Wahn dir lieh? Wo des hohen Ideales Züge, Das sein Rausch in dir verwirklicht sah? Mit dem Rausche schwand des Rausches Lüge, Und entzaubert stehst du vor mir da. Wie? dem Geist Praxiteles entrungen Hätte sich süssschmerzend diese Frau? Aus dem Meissel Polyklet's entsprungen Wär' unsträflich dieser Gliederbau? Diese Formen trotzten jedem Tadel? Dieses Auge sonder Ruh und Glanz, Diese Stirne sonder Sinn und Adel Kämpften mit Niobens um den Kranz? Dieses, wähnt' ich, sey der Wuchs Dionens? Dies der Flug, den Atalanta flog? Dies der Marmorbusen Hermionens, Draus Orest Heroen-Frohheit sog? Dies der Honigreiche Mund Athenens, Dem Verständigkeit und Güt' entquoll? Dies die Tinten Anadyomenens, Als sie blendend dem Geschäum' entschwoll? Wo sind nun die täuschenden Gebilde, Wo die Gaukel meiner Fantasie? Wo die Füll' und Frisch' und Huld und Milde, Falsche, die des Dichters Wahn dir lieh? Wo des hohen Ideales Züge, Das sein Rausch in dir verwirklicht sah? Mit dem Rausche schwand des Rausches Lüge, Und entzaubert stehst du vor mir da. Wie? dem Geist Praxiteles entrungen Hätte sich süſsschmerzend diese Frau? Aus dem Meissel Polyklet's entsprungen Wär' unsträflich dieser Gliederbau? Diese Formen trotzten jedem Tadel? Dieses Auge sonder Ruh und Glanz, Diese Stirne sonder Sinn und Adel Kämpften mit Niobens um den Kranz? Dieses, wähnt' ich, sey der Wuchs Dionens? Dies der Flug, den Atalanta flog? Dies der Marmorbusen Hermionens, Draus Orest Heroen-Frohheit sog? Dies der Honigreiche Mund Athenens, Dem Verständigkeit und Güt' entquoll? Dies die Tinten Anadyomenens, Als sie blendend dem Geschäum' entschwoll? <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0159" n="139"/> <lg n="2"> <l>Wo sind nun die täuschenden Gebilde,</l><lb/> <l>Wo die Gaukel meiner Fantasie?</l><lb/> <l>Wo die Füll' und Frisch' und Huld und Milde,</l><lb/> <l>Falsche, die des Dichters Wahn dir lieh?</l><lb/> <l>Wo des hohen Ideales Züge,</l><lb/> <l>Das sein Rausch in dir verwirklicht sah?</l><lb/> <l>Mit dem Rausche schwand des Rausches Lüge,</l><lb/> <l>Und entzaubert stehst du vor mir da.</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Wie? dem Geist Praxiteles entrungen</l><lb/> <l>Hätte sich süſsschmerzend diese Frau?</l><lb/> <l>Aus dem Meissel Polyklet's entsprungen</l><lb/> <l>Wär' unsträflich dieser Gliederbau?</l><lb/> <l>Diese Formen trotzten jedem Tadel?</l><lb/> <l>Dieses Auge sonder Ruh und Glanz,</l><lb/> <l>Diese Stirne sonder Sinn und Adel</l><lb/> <l>Kämpften mit Niobens um den Kranz?</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Dieses, wähnt' ich, sey der Wuchs Dionens?</l><lb/> <l>Dies der Flug, den Atalanta flog?</l><lb/> <l>Dies der Marmorbusen Hermionens,</l><lb/> <l>Draus Orest Heroen-Frohheit sog?</l><lb/> <l>Dies der Honigreiche Mund Athenens,</l><lb/> <l>Dem Verständigkeit und Güt' entquoll?</l><lb/> <l>Dies die Tinten Anadyomenens,</l><lb/> <l>Als sie blendend dem Geschäum' entschwoll?</l> </lg><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [139/0159]
Wo sind nun die täuschenden Gebilde,
Wo die Gaukel meiner Fantasie?
Wo die Füll' und Frisch' und Huld und Milde,
Falsche, die des Dichters Wahn dir lieh?
Wo des hohen Ideales Züge,
Das sein Rausch in dir verwirklicht sah?
Mit dem Rausche schwand des Rausches Lüge,
Und entzaubert stehst du vor mir da.
Wie? dem Geist Praxiteles entrungen
Hätte sich süſsschmerzend diese Frau?
Aus dem Meissel Polyklet's entsprungen
Wär' unsträflich dieser Gliederbau?
Diese Formen trotzten jedem Tadel?
Dieses Auge sonder Ruh und Glanz,
Diese Stirne sonder Sinn und Adel
Kämpften mit Niobens um den Kranz?
Dieses, wähnt' ich, sey der Wuchs Dionens?
Dies der Flug, den Atalanta flog?
Dies der Marmorbusen Hermionens,
Draus Orest Heroen-Frohheit sog?
Dies der Honigreiche Mund Athenens,
Dem Verständigkeit und Güt' entquoll?
Dies die Tinten Anadyomenens,
Als sie blendend dem Geschäum' entschwoll?
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/kosegarten_poesieen03_1802 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/kosegarten_poesieen03_1802/159 |
Zitationshilfe: | Kosegarten, Ludwig Gotthard: Poesieen. Bd. 3. Leipzig, 1802, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kosegarten_poesieen03_1802/159>, abgerufen am 16.02.2025. |