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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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seinen eigenen Weg, ginge und sich selten mache. Er habe
jetzt eben große Verpflichtungen gegen die Familie Urban,
würde auch geschäftlich sehr in Anspruch genommen.

Frau Karoline nahm nach diesen Zeilen den "guten
Jungen" in Schutz. Der Meister aber sah tiefer, denn er war
plötzlich sehend geworden. So groß die Zärtlichkeit war, die
er seinem Sohne stets entgegengebracht hatte, so unauslösch¬
lich war jetzt der Groll gegen ihn in seiner Brust. Der
Einzige war aus seinem Herzen gerissen; und wenn die
Wunde auch niemals zuheilen würde -- es sollte so bleiben!
So sehr liebte Johannes seinen Vater, daß er sich schämte,
ihm Mittheilung von dem Zerwürfniß zu machen. Man
erfand denn für den Greis und die Gesellen die Mär, daß
Franz für seinen Chef Reisen machen müsse und in Folge
dessen sich selten sehen lassen könne. Nur Thomas Beyer
ließ sich nicht täuschen. Er ahnte den ganzen Zusammenhang,
wollte aber Timpe nicht wehe thun und enthielt sich daher
jeglicher Bemerkung darüber.

War Gottfried Timpe auch über diesen Punkt beruhigt,
so konnte man es doch nicht verhindern, daß er nach und
nach etwas von der geschäftlichen Misere erfuhr, wenn auch
nicht in ihrem ganzen Umfange. Nun wollte er alles vor¬
her geweissagt haben und kam daher jeden Tag mit einem
Dutzend Rathschläge zum Vorschein, die Johannes befolgen
sollte. Der Meister half sich auch hier mit allerlei Nothlügen
aus und belog sich selbst, indem er eines Tages dem Vater
die Mittheilung machte, daß die Bestellungen sich wieder
mehrten, trotzdem das gerade Gegentheil der Fall war.
Gottfried Timpe aber hatte auf Wochen hinaus neue An¬
regungen in seinen Unterhaltungen mit Frau Karoline

Kretzer, Meister Timpe. 11

ſeinen eigenen Weg, ginge und ſich ſelten mache. Er habe
jetzt eben große Verpflichtungen gegen die Familie Urban,
würde auch geſchäftlich ſehr in Anſpruch genommen.

Frau Karoline nahm nach dieſen Zeilen den „guten
Jungen“ in Schutz. Der Meiſter aber ſah tiefer, denn er war
plötzlich ſehend geworden. So groß die Zärtlichkeit war, die
er ſeinem Sohne ſtets entgegengebracht hatte, ſo unauslöſch¬
lich war jetzt der Groll gegen ihn in ſeiner Bruſt. Der
Einzige war aus ſeinem Herzen geriſſen; und wenn die
Wunde auch niemals zuheilen würde — es ſollte ſo bleiben!
So ſehr liebte Johannes ſeinen Vater, daß er ſich ſchämte,
ihm Mittheilung von dem Zerwürfniß zu machen. Man
erfand denn für den Greis und die Geſellen die Mär, daß
Franz für ſeinen Chef Reiſen machen müſſe und in Folge
deſſen ſich ſelten ſehen laſſen könne. Nur Thomas Beyer
ließ ſich nicht täuſchen. Er ahnte den ganzen Zuſammenhang,
wollte aber Timpe nicht wehe thun und enthielt ſich daher
jeglicher Bemerkung darüber.

War Gottfried Timpe auch über dieſen Punkt beruhigt,
ſo konnte man es doch nicht verhindern, daß er nach und
nach etwas von der geſchäftlichen Miſère erfuhr, wenn auch
nicht in ihrem ganzen Umfange. Nun wollte er alles vor¬
her geweiſſagt haben und kam daher jeden Tag mit einem
Dutzend Rathſchläge zum Vorſchein, die Johannes befolgen
ſollte. Der Meiſter half ſich auch hier mit allerlei Nothlügen
aus und belog ſich ſelbſt, indem er eines Tages dem Vater
die Mittheilung machte, daß die Beſtellungen ſich wieder
mehrten, trotzdem das gerade Gegentheil der Fall war.
Gottfried Timpe aber hatte auf Wochen hinaus neue An¬
regungen in ſeinen Unterhaltungen mit Frau Karoline

Kretzer, Meiſter Timpe. 11
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[161/0173] ſeinen eigenen Weg, ginge und ſich ſelten mache. Er habe jetzt eben große Verpflichtungen gegen die Familie Urban, würde auch geſchäftlich ſehr in Anſpruch genommen. Frau Karoline nahm nach dieſen Zeilen den „guten Jungen“ in Schutz. Der Meiſter aber ſah tiefer, denn er war plötzlich ſehend geworden. So groß die Zärtlichkeit war, die er ſeinem Sohne ſtets entgegengebracht hatte, ſo unauslöſch¬ lich war jetzt der Groll gegen ihn in ſeiner Bruſt. Der Einzige war aus ſeinem Herzen geriſſen; und wenn die Wunde auch niemals zuheilen würde — es ſollte ſo bleiben! So ſehr liebte Johannes ſeinen Vater, daß er ſich ſchämte, ihm Mittheilung von dem Zerwürfniß zu machen. Man erfand denn für den Greis und die Geſellen die Mär, daß Franz für ſeinen Chef Reiſen machen müſſe und in Folge deſſen ſich ſelten ſehen laſſen könne. Nur Thomas Beyer ließ ſich nicht täuſchen. Er ahnte den ganzen Zuſammenhang, wollte aber Timpe nicht wehe thun und enthielt ſich daher jeglicher Bemerkung darüber. War Gottfried Timpe auch über dieſen Punkt beruhigt, ſo konnte man es doch nicht verhindern, daß er nach und nach etwas von der geſchäftlichen Miſère erfuhr, wenn auch nicht in ihrem ganzen Umfange. Nun wollte er alles vor¬ her geweiſſagt haben und kam daher jeden Tag mit einem Dutzend Rathſchläge zum Vorſchein, die Johannes befolgen ſollte. Der Meiſter half ſich auch hier mit allerlei Nothlügen aus und belog ſich ſelbſt, indem er eines Tages dem Vater die Mittheilung machte, daß die Beſtellungen ſich wieder mehrten, trotzdem das gerade Gegentheil der Fall war. Gottfried Timpe aber hatte auf Wochen hinaus neue An¬ regungen in ſeinen Unterhaltungen mit Frau Karoline Kretzer, Meiſter Timpe. 11

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/173>, abgerufen am 21.11.2024.