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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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ganzen Linie, bis sie anfingen allmählich in die Rundung des
Bogens überzugehen. Und je weiter die Steinmassen sich
rechts und links ausdehnten, um zu einem riesigen Ringe zu
werden, je beengter fühlte sich der Meister schwebend über
dem Dache seines Häuschens, je mehr überkam ihn das Ge¬
fühl einer gewaltsamen Erdrückung -- gleich einem Menschen,
der nach und nach in immer kleinere Räume geführt wird
bis er sich im letzten befindet, in dem er nicht mehr zu
athmen vermag. Immer winziger und ruinenhafter erschien
ihm sein Häuschen Angesichts des ersten kühnen Bogens, der
sich von einem Pfeiler zum andern spannte.

Mit der Zeit flößte ihm der Wunderbau so großes Inter¬
esse ein, war er auf seine weitere Entwickelung so gespannt,
daß er die Stunde kaum erwarten konnte, die ihm den alten und
doch neuen Anblick gewährte. Zuletzt kannte er jeden Arbeiter
von Angesicht, hatte er sich ihre Gewohnheiten eingeprägt,
wußte er, ob dieser fleißig, jener faul sei; und aus den Ge¬
sprächen, die sie mit einander führten, lernte er schließlich ihre
persönlichen Verhältnisse kennen. Mit einem der Maurer,
einem alten, ehrwürdig aussehenden Manne mit langem weißen
Kinnbart, war er bereits so vertraut geworden, daß er ihn
des Morgens wie einen guten Bekannten begrüßte und seine
Meinung über das Wetter und andere für den Tag höchst
wichtige Dinge mit ihm austauschte. Dann redete man sich
gegenseitig nur mit "Meister" an; und mehr als einmal
reichte Timpe dem Manne im weißen Kittel helles Feuer zu,
oder ließ sich herab, ihm mit einer Hand voll Taback aus¬
zuhelfen.

Und war der letzte Arbeiter vom Gerüst verschwunden,
dann warf er noch einen langen Blick auf seine Umgebung

Kretzer, Meister Timpe. 12

ganzen Linie, bis ſie anfingen allmählich in die Rundung des
Bogens überzugehen. Und je weiter die Steinmaſſen ſich
rechts und links ausdehnten, um zu einem rieſigen Ringe zu
werden, je beengter fühlte ſich der Meiſter ſchwebend über
dem Dache ſeines Häuschens, je mehr überkam ihn das Ge¬
fühl einer gewaltſamen Erdrückung — gleich einem Menſchen,
der nach und nach in immer kleinere Räume geführt wird
bis er ſich im letzten befindet, in dem er nicht mehr zu
athmen vermag. Immer winziger und ruinenhafter erſchien
ihm ſein Häuschen Angeſichts des erſten kühnen Bogens, der
ſich von einem Pfeiler zum andern ſpannte.

Mit der Zeit flößte ihm der Wunderbau ſo großes Inter¬
eſſe ein, war er auf ſeine weitere Entwickelung ſo geſpannt,
daß er die Stunde kaum erwarten konnte, die ihm den alten und
doch neuen Anblick gewährte. Zuletzt kannte er jeden Arbeiter
von Angeſicht, hatte er ſich ihre Gewohnheiten eingeprägt,
wußte er, ob dieſer fleißig, jener faul ſei; und aus den Ge¬
ſprächen, die ſie mit einander führten, lernte er ſchließlich ihre
perſönlichen Verhältniſſe kennen. Mit einem der Maurer,
einem alten, ehrwürdig ausſehenden Manne mit langem weißen
Kinnbart, war er bereits ſo vertraut geworden, daß er ihn
des Morgens wie einen guten Bekannten begrüßte und ſeine
Meinung über das Wetter und andere für den Tag höchſt
wichtige Dinge mit ihm austauſchte. Dann redete man ſich
gegenſeitig nur mit „Meiſter“ an; und mehr als einmal
reichte Timpe dem Manne im weißen Kittel helles Feuer zu,
oder ließ ſich herab, ihm mit einer Hand voll Taback aus¬
zuhelfen.

Und war der letzte Arbeiter vom Gerüſt verſchwunden,
dann warf er noch einen langen Blick auf ſeine Umgebung

Kretzer, Meiſter Timpe. 12
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[177/0189] ganzen Linie, bis ſie anfingen allmählich in die Rundung des Bogens überzugehen. Und je weiter die Steinmaſſen ſich rechts und links ausdehnten, um zu einem rieſigen Ringe zu werden, je beengter fühlte ſich der Meiſter ſchwebend über dem Dache ſeines Häuschens, je mehr überkam ihn das Ge¬ fühl einer gewaltſamen Erdrückung — gleich einem Menſchen, der nach und nach in immer kleinere Räume geführt wird bis er ſich im letzten befindet, in dem er nicht mehr zu athmen vermag. Immer winziger und ruinenhafter erſchien ihm ſein Häuschen Angeſichts des erſten kühnen Bogens, der ſich von einem Pfeiler zum andern ſpannte. Mit der Zeit flößte ihm der Wunderbau ſo großes Inter¬ eſſe ein, war er auf ſeine weitere Entwickelung ſo geſpannt, daß er die Stunde kaum erwarten konnte, die ihm den alten und doch neuen Anblick gewährte. Zuletzt kannte er jeden Arbeiter von Angeſicht, hatte er ſich ihre Gewohnheiten eingeprägt, wußte er, ob dieſer fleißig, jener faul ſei; und aus den Ge¬ ſprächen, die ſie mit einander führten, lernte er ſchließlich ihre perſönlichen Verhältniſſe kennen. Mit einem der Maurer, einem alten, ehrwürdig ausſehenden Manne mit langem weißen Kinnbart, war er bereits ſo vertraut geworden, daß er ihn des Morgens wie einen guten Bekannten begrüßte und ſeine Meinung über das Wetter und andere für den Tag höchſt wichtige Dinge mit ihm austauſchte. Dann redete man ſich gegenſeitig nur mit „Meiſter“ an; und mehr als einmal reichte Timpe dem Manne im weißen Kittel helles Feuer zu, oder ließ ſich herab, ihm mit einer Hand voll Taback aus¬ zuhelfen. Und war der letzte Arbeiter vom Gerüſt verſchwunden, dann warf er noch einen langen Blick auf ſeine Umgebung Kretzer, Meiſter Timpe. 12

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/189>, abgerufen am 24.11.2024.