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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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sondere Bedürfnisse hatte er garnicht. Selbst die "Warte",
die ihm sonst so lieb und theuer war, bestieg er nicht mehr,
denn der Anblick alles dessen, was außerhalb seiner Wände
lag, war ihm verhaßt.

Die Bewohner des ganzen Viertels sprachen nur noch
von ihm als von einem Sonderling, und geschah das von
böswilligen Zungen, so wurde noch das Wort "verrückter" hin¬
zugesetzt. Es gab Leute, die einen weiten Weg machten, um
sein Haus zu sehen und sich eine Vorstellung von dem Be¬
wohner zu machen. Trotzdem er Niemandem etwas zu Leide
that, gab es Mütter, die ihre Kinder warnten, in der Abend¬
stunde bei des Meisters Hausthür vorüberzugehen, denn geistes¬
gestörten Menschen müsse man aus dem Wege gehen, weil sie
gefährlich werden könnten. Dieses Urtheil der öffentlichen
Meinung trug viel dazu bei, das Verhältniß seines Sohnes
zu ihm von einer ganz anderen Seite zu betrachten und das
Fernbleiben desselben von dem Elternhause gerechtfertigt zu
finden. Wer mitten unter civilisirten Leuten das Leben eines
Waldmenschen führte, mußte mit einem ganz anderen Maße
gemessen werden. Was hatten die Leute sich schon alles von
ihm erzählt! Wie er aufziehe, das Haar langwachsen lasse, mit
einer großen Tasche in der Hand frühmorgens wie ein
richtiges altes Weib Kaffee und Brot einhole, ja oftmals
sogar Kartoffeln, die er wahrscheinlich ungewaschen mit der
Schale röste, um sie frisch aus dem Feuer zu verzehren.

Nur zwei Menschen gab es, die oft zusammentrafen, um
ein besseres Urtheil über Timpe abzugeben und gegenseitig
ihre Gedanken auszutauschen: Beyer und Nölte. Beide
hatten zu verschiedenen Malen den Versuch gemacht, ihn zu
besuchen, ohne jedoch Einlaß zu finden. Der Klempner hatte

ſondere Bedürfniſſe hatte er garnicht. Selbſt die „Warte“,
die ihm ſonſt ſo lieb und theuer war, beſtieg er nicht mehr,
denn der Anblick alles deſſen, was außerhalb ſeiner Wände
lag, war ihm verhaßt.

Die Bewohner des ganzen Viertels ſprachen nur noch
von ihm als von einem Sonderling, und geſchah das von
böswilligen Zungen, ſo wurde noch das Wort „verrückter“ hin¬
zugeſetzt. Es gab Leute, die einen weiten Weg machten, um
ſein Haus zu ſehen und ſich eine Vorſtellung von dem Be¬
wohner zu machen. Trotzdem er Niemandem etwas zu Leide
that, gab es Mütter, die ihre Kinder warnten, in der Abend¬
ſtunde bei des Meiſters Hausthür vorüberzugehen, denn geiſtes¬
geſtörten Menſchen müſſe man aus dem Wege gehen, weil ſie
gefährlich werden könnten. Dieſes Urtheil der öffentlichen
Meinung trug viel dazu bei, das Verhältniß ſeines Sohnes
zu ihm von einer ganz anderen Seite zu betrachten und das
Fernbleiben deſſelben von dem Elternhauſe gerechtfertigt zu
finden. Wer mitten unter civiliſirten Leuten das Leben eines
Waldmenſchen führte, mußte mit einem ganz anderen Maße
gemeſſen werden. Was hatten die Leute ſich ſchon alles von
ihm erzählt! Wie er aufziehe, das Haar langwachſen laſſe, mit
einer großen Taſche in der Hand frühmorgens wie ein
richtiges altes Weib Kaffee und Brot einhole, ja oftmals
ſogar Kartoffeln, die er wahrſcheinlich ungewaſchen mit der
Schale röſte, um ſie friſch aus dem Feuer zu verzehren.

Nur zwei Menſchen gab es, die oft zuſammentrafen, um
ein beſſeres Urtheil über Timpe abzugeben und gegenſeitig
ihre Gedanken auszutauſchen: Beyer und Nölte. Beide
hatten zu verſchiedenen Malen den Verſuch gemacht, ihn zu
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[272/0284] ſondere Bedürfniſſe hatte er garnicht. Selbſt die „Warte“, die ihm ſonſt ſo lieb und theuer war, beſtieg er nicht mehr, denn der Anblick alles deſſen, was außerhalb ſeiner Wände lag, war ihm verhaßt. Die Bewohner des ganzen Viertels ſprachen nur noch von ihm als von einem Sonderling, und geſchah das von böswilligen Zungen, ſo wurde noch das Wort „verrückter“ hin¬ zugeſetzt. Es gab Leute, die einen weiten Weg machten, um ſein Haus zu ſehen und ſich eine Vorſtellung von dem Be¬ wohner zu machen. Trotzdem er Niemandem etwas zu Leide that, gab es Mütter, die ihre Kinder warnten, in der Abend¬ ſtunde bei des Meiſters Hausthür vorüberzugehen, denn geiſtes¬ geſtörten Menſchen müſſe man aus dem Wege gehen, weil ſie gefährlich werden könnten. Dieſes Urtheil der öffentlichen Meinung trug viel dazu bei, das Verhältniß ſeines Sohnes zu ihm von einer ganz anderen Seite zu betrachten und das Fernbleiben deſſelben von dem Elternhauſe gerechtfertigt zu finden. Wer mitten unter civiliſirten Leuten das Leben eines Waldmenſchen führte, mußte mit einem ganz anderen Maße gemeſſen werden. Was hatten die Leute ſich ſchon alles von ihm erzählt! Wie er aufziehe, das Haar langwachſen laſſe, mit einer großen Taſche in der Hand frühmorgens wie ein richtiges altes Weib Kaffee und Brot einhole, ja oftmals ſogar Kartoffeln, die er wahrſcheinlich ungewaſchen mit der Schale röſte, um ſie friſch aus dem Feuer zu verzehren. Nur zwei Menſchen gab es, die oft zuſammentrafen, um ein beſſeres Urtheil über Timpe abzugeben und gegenſeitig ihre Gedanken auszutauſchen: Beyer und Nölte. Beide hatten zu verſchiedenen Malen den Verſuch gemacht, ihn zu beſuchen, ohne jedoch Einlaß zu finden. Der Klempner hatte

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/284>, abgerufen am 25.11.2024.