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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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ein Gerechter leide um hundert Ungerechter willen . . . die
moderne Gesellschaft mit ihrem Produktionsschwindel hat Sie
auf dem Gewissen. . ."

Er sprach diese Sätze wohl ein Dutzend Mal laut vor
sich hin und gab sich alle Mühe, ihre Wahrheit zu ergründen
und sie bis ins Einzelne zu zergliedern. Eine förmliche
Wuth überkam ihn, die neue Lehre immer mehr in sich
aufzunehmen und sich an ihr zu berauschen. In der guten
Stube standen einige Bücher, darunter ein altes Lexikon.
Mit Eifer stürzte er sich darüber her und suchte nach irgend
einer Erklärung des Wortes "Sozialdemokratie". Er
wurde aber nicht befriedigt; was er fand, war ihm zu ge¬
lehrt. Als er beim großen Wandspiegel vorüberkam, schreckte
er vor seinem eigenen Bilde zusammen. Gespensterhaft
starrte ihm sein Antlitz entgegen. Er war so überrascht, daß
er sich umblickte, als stände noch ein Anderer hinter
ihm. Je länger er sich aber betrachtete, je komischer
kam er sich vor. Schließlich amüsirte er sich über seinen
Aufzug, beschaute sich, wie ein Komödiant, der in den nächsten
Minuten auf die Bühne gehen soll, von allen Seiten und
nickte sich freundlich zu. Es war der Schnapsteufel, der aus
ihm sprach und ihm diese Scherze eingab. Dann ging er
nach der Küche und hob die ganze Heerdplatte in die Höhe,
weil er in dem Wahne lebte, es könnte von den verbotenen
Schriften Beyers, die er vor langer Zeit verbrannt hatte,
noch etwas übrig geblieben sein.

Es kamen nun Stunden, wo die Einsamkeit, die bisher
sein einziges Glück ausmachte, ihm zur Last wurde, wo er
seine größte Befriedigung darin gefunden hätte, mit einem
vertrauten Menschen zu sprechen, um alles von sich zu wälzen,

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ein Gerechter leide um hundert Ungerechter willen . . . die
moderne Geſellſchaft mit ihrem Produktionsſchwindel hat Sie
auf dem Gewiſſen. . .“

Er ſprach dieſe Sätze wohl ein Dutzend Mal laut vor
ſich hin und gab ſich alle Mühe, ihre Wahrheit zu ergründen
und ſie bis ins Einzelne zu zergliedern. Eine förmliche
Wuth überkam ihn, die neue Lehre immer mehr in ſich
aufzunehmen und ſich an ihr zu berauſchen. In der guten
Stube ſtanden einige Bücher, darunter ein altes Lexikon.
Mit Eifer ſtürzte er ſich darüber her und ſuchte nach irgend
einer Erklärung des Wortes „Sozialdemokratie“. Er
wurde aber nicht befriedigt; was er fand, war ihm zu ge¬
lehrt. Als er beim großen Wandſpiegel vorüberkam, ſchreckte
er vor ſeinem eigenen Bilde zuſammen. Geſpenſterhaft
ſtarrte ihm ſein Antlitz entgegen. Er war ſo überraſcht, daß
er ſich umblickte, als ſtände noch ein Anderer hinter
ihm. Je länger er ſich aber betrachtete, je komiſcher
kam er ſich vor. Schließlich amüſirte er ſich über ſeinen
Aufzug, beſchaute ſich, wie ein Komödiant, der in den nächſten
Minuten auf die Bühne gehen ſoll, von allen Seiten und
nickte ſich freundlich zu. Es war der Schnapsteufel, der aus
ihm ſprach und ihm dieſe Scherze eingab. Dann ging er
nach der Küche und hob die ganze Heerdplatte in die Höhe,
weil er in dem Wahne lebte, es könnte von den verbotenen
Schriften Beyers, die er vor langer Zeit verbrannt hatte,
noch etwas übrig geblieben ſein.

Es kamen nun Stunden, wo die Einſamkeit, die bisher
ſein einziges Glück ausmachte, ihm zur Laſt wurde, wo er
ſeine größte Befriedigung darin gefunden hätte, mit einem
vertrauten Menſchen zu ſprechen, um alles von ſich zu wälzen,

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[275/0287] ein Gerechter leide um hundert Ungerechter willen . . . die moderne Geſellſchaft mit ihrem Produktionsſchwindel hat Sie auf dem Gewiſſen. . .“ Er ſprach dieſe Sätze wohl ein Dutzend Mal laut vor ſich hin und gab ſich alle Mühe, ihre Wahrheit zu ergründen und ſie bis ins Einzelne zu zergliedern. Eine förmliche Wuth überkam ihn, die neue Lehre immer mehr in ſich aufzunehmen und ſich an ihr zu berauſchen. In der guten Stube ſtanden einige Bücher, darunter ein altes Lexikon. Mit Eifer ſtürzte er ſich darüber her und ſuchte nach irgend einer Erklärung des Wortes „Sozialdemokratie“. Er wurde aber nicht befriedigt; was er fand, war ihm zu ge¬ lehrt. Als er beim großen Wandſpiegel vorüberkam, ſchreckte er vor ſeinem eigenen Bilde zuſammen. Geſpenſterhaft ſtarrte ihm ſein Antlitz entgegen. Er war ſo überraſcht, daß er ſich umblickte, als ſtände noch ein Anderer hinter ihm. Je länger er ſich aber betrachtete, je komiſcher kam er ſich vor. Schließlich amüſirte er ſich über ſeinen Aufzug, beſchaute ſich, wie ein Komödiant, der in den nächſten Minuten auf die Bühne gehen ſoll, von allen Seiten und nickte ſich freundlich zu. Es war der Schnapsteufel, der aus ihm ſprach und ihm dieſe Scherze eingab. Dann ging er nach der Küche und hob die ganze Heerdplatte in die Höhe, weil er in dem Wahne lebte, es könnte von den verbotenen Schriften Beyers, die er vor langer Zeit verbrannt hatte, noch etwas übrig geblieben ſein. Es kamen nun Stunden, wo die Einſamkeit, die bisher ſein einziges Glück ausmachte, ihm zur Laſt wurde, wo er ſeine größte Befriedigung darin gefunden hätte, mit einem vertrauten Menſchen zu ſprechen, um alles von ſich zu wälzen, 18*

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/287>, abgerufen am 22.11.2024.