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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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er das tiefste Mitleid einflößen. Hunderte, die mehr als
einmal bei ihm nach Arbeit vorgesprochen hatten, kannten
ihn nicht wieder. Er war erschrecklich gealtert. Das Gesicht
hatte tiefe Furchen bekommen, und die Wangen waren
schmal wie zwei Bretter. Der Nacken war tief gekrümmt,
und die vernachlässigten Kleider hingen lose wie
Fahnentücher an seinem Körper; dazu kam das lange
weiße Haar, das in Strähnen auf die Schultern fiel, der verwil¬
derte Kinnbart, der ihn noch älter machte, als er war. Er
bot das Bild eines durch Kummer und Sorge früh gebeugten
Menschen. Nur in seinen Augen leuchtete ein unheimliches
Feuer, während die Wangen sich leicht geröthet hatten. Die
Arbeiter flüsterten sich allerlei Bemerkungen zu. Von Mund
zu Mund ging es, daß Timpe durch Urban ruinirt worden
sei, daß er schon längst den letzten Gesellen habe entlassen
müssen und nun für das liebe tägliche Brot arbeite;
daß sein Haus über und über verschuldet sei, und daß ein
unglückliches Verhältniß zwischen ihm und seinem Sohne
bestehe.

Er hatte die rechte Hand auf den Tisch gestützt und be¬
gann nun zu sprechen, erst unsicher und zaghaft, dann zu¬
sammenhängender und mit angestrengter Stimme. Er redete
eigentlich nicht, sondern erzählte, wie Jemand, dem es nur
darauf ankommt, seinem Herzen Luft zu machen.

"Meine geehrten Herren", begann er, "Sie sehen in mir
einen ruinirten Drechslermeister . . . Mein Geschäft hat Jahr¬
zehnte lang geblüht, acht Gesellen habe ich in meiner Werk¬
statt gehabt, heute aber stehe ich allein, und muß mich um's
tägliche Brot quälen . ."

Ich bin achtundsechzig Jahre alt, habe fünfzig Jahre lang

er das tiefſte Mitleid einflößen. Hunderte, die mehr als
einmal bei ihm nach Arbeit vorgeſprochen hatten, kannten
ihn nicht wieder. Er war erſchrecklich gealtert. Das Geſicht
hatte tiefe Furchen bekommen, und die Wangen waren
ſchmal wie zwei Bretter. Der Nacken war tief gekrümmt,
und die vernachläſſigten Kleider hingen loſe wie
Fahnentücher an ſeinem Körper; dazu kam das lange
weiße Haar, das in Strähnen auf die Schultern fiel, der verwil¬
derte Kinnbart, der ihn noch älter machte, als er war. Er
bot das Bild eines durch Kummer und Sorge früh gebeugten
Menſchen. Nur in ſeinen Augen leuchtete ein unheimliches
Feuer, während die Wangen ſich leicht geröthet hatten. Die
Arbeiter flüſterten ſich allerlei Bemerkungen zu. Von Mund
zu Mund ging es, daß Timpe durch Urban ruinirt worden
ſei, daß er ſchon längſt den letzten Geſellen habe entlaſſen
müſſen und nun für das liebe tägliche Brot arbeite;
daß ſein Haus über und über verſchuldet ſei, und daß ein
unglückliches Verhältniß zwiſchen ihm und ſeinem Sohne
beſtehe.

Er hatte die rechte Hand auf den Tiſch geſtützt und be¬
gann nun zu ſprechen, erſt unſicher und zaghaft, dann zu¬
ſammenhängender und mit angeſtrengter Stimme. Er redete
eigentlich nicht, ſondern erzählte, wie Jemand, dem es nur
darauf ankommt, ſeinem Herzen Luft zu machen.

„Meine geehrten Herren“, begann er, „Sie ſehen in mir
einen ruinirten Drechslermeiſter . . . Mein Geſchäft hat Jahr¬
zehnte lang geblüht, acht Geſellen habe ich in meiner Werk¬
ſtatt gehabt, heute aber ſtehe ich allein, und muß mich um's
tägliche Brot quälen . .“

Ich bin achtundſechzig Jahre alt, habe fünfzig Jahre lang

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[294/0306] er das tiefſte Mitleid einflößen. Hunderte, die mehr als einmal bei ihm nach Arbeit vorgeſprochen hatten, kannten ihn nicht wieder. Er war erſchrecklich gealtert. Das Geſicht hatte tiefe Furchen bekommen, und die Wangen waren ſchmal wie zwei Bretter. Der Nacken war tief gekrümmt, und die vernachläſſigten Kleider hingen loſe wie Fahnentücher an ſeinem Körper; dazu kam das lange weiße Haar, das in Strähnen auf die Schultern fiel, der verwil¬ derte Kinnbart, der ihn noch älter machte, als er war. Er bot das Bild eines durch Kummer und Sorge früh gebeugten Menſchen. Nur in ſeinen Augen leuchtete ein unheimliches Feuer, während die Wangen ſich leicht geröthet hatten. Die Arbeiter flüſterten ſich allerlei Bemerkungen zu. Von Mund zu Mund ging es, daß Timpe durch Urban ruinirt worden ſei, daß er ſchon längſt den letzten Geſellen habe entlaſſen müſſen und nun für das liebe tägliche Brot arbeite; daß ſein Haus über und über verſchuldet ſei, und daß ein unglückliches Verhältniß zwiſchen ihm und ſeinem Sohne beſtehe. Er hatte die rechte Hand auf den Tiſch geſtützt und be¬ gann nun zu ſprechen, erſt unſicher und zaghaft, dann zu¬ ſammenhängender und mit angeſtrengter Stimme. Er redete eigentlich nicht, ſondern erzählte, wie Jemand, dem es nur darauf ankommt, ſeinem Herzen Luft zu machen. „Meine geehrten Herren“, begann er, „Sie ſehen in mir einen ruinirten Drechslermeiſter . . . Mein Geſchäft hat Jahr¬ zehnte lang geblüht, acht Geſellen habe ich in meiner Werk¬ ſtatt gehabt, heute aber ſtehe ich allein, und muß mich um's tägliche Brot quälen . .“ Ich bin achtundſechzig Jahre alt, habe fünfzig Jahre lang

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/306>, abgerufen am 21.11.2024.