werde. . . . Adieu, du gutes Mädchen, laß nicht lange auf Dich warten."
Er hatte mit bewegter Stimme gesprochen und küßte nun seine Schwester auf die Stirn. Marie war außerordentlich überrascht durch diese Mittheilung; sie wollte ihn zurück¬ halten, aber er ließ es nicht zu. Und so ging er denn von dannen.
Marie sagte sich, daß etwas Besonderes vorgefallen sein müsse; ihr Bruder wäre sonst nicht so merkwürdig gefaßt gewesen. Sie ärgerte sich darüber, daß dieser alte Herr, um den man sich wie um einen Vater bekümmert hatte, so wenig Anerkennung aller Bemühungen übrig hatte. Zu dem Aerger kam die verletzte Eitelkeit des Weibes. War sie überdies nicht die Schwester eines so braven Bruders, der sich für ein wahres Trinkgeld von früh bis spät gequält hatte, nur um dem Meister seine Dankbarkeit zu erweisen? Wer hätte sich wohl um ihn bekümmert, wenn sie beide nicht gewesen wären? Tausend Andere nicht, am allerwenigsten seine "ver¬ wandtschaftliche Sippschaft", die doch ihrer Meinung nach "genug in die Suppe zu brocken" hatte. Wie Thomas die Lippen zitterten, als er von dem letzten Gruß an den Meister sprach. Er war doch ein eigenthümlicher Mensch: ließ sich schlecht behandeln, und konnte doch mit seiner Verehrung für Timpe nicht zurückhalten. Marie liebte ihren Bruder zärtlich und abgöttisch, fast wie einen zweiten Vater. Hatte er doch wie ein solcher sein ganzes Leben lang für sie gesorgt, sie wie eine arme, verlassene Blume gehegt und gepflegt, die abseits vom Wege in einem dunklen Winkel sieht, zu dem selten ein Strahl der Sonne sich verirrt. Um so erklärlicher wird man es finden, wenn etwas wie Zorn in ihr aufstieg und sie das
werde. . . . Adieu, du gutes Mädchen, laß nicht lange auf Dich warten.“
Er hatte mit bewegter Stimme geſprochen und küßte nun ſeine Schweſter auf die Stirn. Marie war außerordentlich überraſcht durch dieſe Mittheilung; ſie wollte ihn zurück¬ halten, aber er ließ es nicht zu. Und ſo ging er denn von dannen.
Marie ſagte ſich, daß etwas Beſonderes vorgefallen ſein müſſe; ihr Bruder wäre ſonſt nicht ſo merkwürdig gefaßt geweſen. Sie ärgerte ſich darüber, daß dieſer alte Herr, um den man ſich wie um einen Vater bekümmert hatte, ſo wenig Anerkennung aller Bemühungen übrig hatte. Zu dem Aerger kam die verletzte Eitelkeit des Weibes. War ſie überdies nicht die Schweſter eines ſo braven Bruders, der ſich für ein wahres Trinkgeld von früh bis ſpät gequält hatte, nur um dem Meiſter ſeine Dankbarkeit zu erweiſen? Wer hätte ſich wohl um ihn bekümmert, wenn ſie beide nicht geweſen wären? Tauſend Andere nicht, am allerwenigſten ſeine „ver¬ wandtſchaftliche Sippſchaft“, die doch ihrer Meinung nach „genug in die Suppe zu brocken“ hatte. Wie Thomas die Lippen zitterten, als er von dem letzten Gruß an den Meiſter ſprach. Er war doch ein eigenthümlicher Menſch: ließ ſich ſchlecht behandeln, und konnte doch mit ſeiner Verehrung für Timpe nicht zurückhalten. Marie liebte ihren Bruder zärtlich und abgöttiſch, faſt wie einen zweiten Vater. Hatte er doch wie ein ſolcher ſein ganzes Leben lang für ſie geſorgt, ſie wie eine arme, verlaſſene Blume gehegt und gepflegt, die abſeits vom Wege in einem dunklen Winkel ſieht, zu dem ſelten ein Strahl der Sonne ſich verirrt. Um ſo erklärlicher wird man es finden, wenn etwas wie Zorn in ihr aufſtieg und ſie das
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0322"n="310"/>
werde. . . . Adieu, du gutes Mädchen, laß nicht lange auf<lb/>
Dich warten.“</p><lb/><p>Er hatte mit bewegter Stimme geſprochen und küßte nun<lb/>ſeine Schweſter auf die Stirn. Marie war außerordentlich<lb/>
überraſcht durch dieſe Mittheilung; ſie wollte ihn zurück¬<lb/>
halten, aber er ließ es nicht zu. Und ſo ging er denn von<lb/>
dannen.</p><lb/><p>Marie ſagte ſich, daß etwas Beſonderes vorgefallen ſein<lb/>
müſſe; ihr Bruder wäre ſonſt nicht ſo merkwürdig gefaßt<lb/>
geweſen. Sie ärgerte ſich darüber, daß dieſer alte Herr,<lb/>
um den man ſich wie um einen Vater bekümmert hatte, ſo<lb/>
wenig Anerkennung aller Bemühungen übrig hatte. Zu dem<lb/>
Aerger kam die verletzte Eitelkeit des Weibes. War ſie<lb/>
überdies nicht die Schweſter eines ſo braven Bruders, der ſich<lb/>
für ein wahres Trinkgeld von früh bis ſpät gequält hatte, nur<lb/>
um dem Meiſter ſeine Dankbarkeit zu erweiſen? Wer hätte<lb/>ſich wohl um ihn bekümmert, wenn ſie beide nicht geweſen wären?<lb/>
Tauſend Andere nicht, am allerwenigſten ſeine „ver¬<lb/>
wandtſchaftliche Sippſchaft“, die doch ihrer Meinung nach<lb/>„genug in die Suppe zu brocken“ hatte. Wie Thomas die<lb/>
Lippen zitterten, als er von dem letzten Gruß an den Meiſter<lb/>ſprach. Er war doch ein eigenthümlicher Menſch: ließ ſich<lb/>ſchlecht behandeln, und konnte doch mit ſeiner Verehrung für Timpe<lb/>
nicht zurückhalten. Marie liebte ihren Bruder zärtlich und<lb/>
abgöttiſch, faſt wie einen zweiten Vater. Hatte er doch wie<lb/>
ein ſolcher ſein ganzes Leben lang für ſie geſorgt, ſie wie eine<lb/>
arme, verlaſſene Blume gehegt und gepflegt, die abſeits vom<lb/>
Wege in einem dunklen Winkel ſieht, zu dem ſelten ein<lb/>
Strahl der Sonne ſich verirrt. Um ſo erklärlicher wird man<lb/>
es finden, wenn etwas wie Zorn in ihr aufſtieg und ſie das<lb/></p></div></body></text></TEI>
[310/0322]
werde. . . . Adieu, du gutes Mädchen, laß nicht lange auf
Dich warten.“
Er hatte mit bewegter Stimme geſprochen und küßte nun
ſeine Schweſter auf die Stirn. Marie war außerordentlich
überraſcht durch dieſe Mittheilung; ſie wollte ihn zurück¬
halten, aber er ließ es nicht zu. Und ſo ging er denn von
dannen.
Marie ſagte ſich, daß etwas Beſonderes vorgefallen ſein
müſſe; ihr Bruder wäre ſonſt nicht ſo merkwürdig gefaßt
geweſen. Sie ärgerte ſich darüber, daß dieſer alte Herr,
um den man ſich wie um einen Vater bekümmert hatte, ſo
wenig Anerkennung aller Bemühungen übrig hatte. Zu dem
Aerger kam die verletzte Eitelkeit des Weibes. War ſie
überdies nicht die Schweſter eines ſo braven Bruders, der ſich
für ein wahres Trinkgeld von früh bis ſpät gequält hatte, nur
um dem Meiſter ſeine Dankbarkeit zu erweiſen? Wer hätte
ſich wohl um ihn bekümmert, wenn ſie beide nicht geweſen wären?
Tauſend Andere nicht, am allerwenigſten ſeine „ver¬
wandtſchaftliche Sippſchaft“, die doch ihrer Meinung nach
„genug in die Suppe zu brocken“ hatte. Wie Thomas die
Lippen zitterten, als er von dem letzten Gruß an den Meiſter
ſprach. Er war doch ein eigenthümlicher Menſch: ließ ſich
ſchlecht behandeln, und konnte doch mit ſeiner Verehrung für Timpe
nicht zurückhalten. Marie liebte ihren Bruder zärtlich und
abgöttiſch, faſt wie einen zweiten Vater. Hatte er doch wie
ein ſolcher ſein ganzes Leben lang für ſie geſorgt, ſie wie eine
arme, verlaſſene Blume gehegt und gepflegt, die abſeits vom
Wege in einem dunklen Winkel ſieht, zu dem ſelten ein
Strahl der Sonne ſich verirrt. Um ſo erklärlicher wird man
es finden, wenn etwas wie Zorn in ihr aufſtieg und ſie das
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/322>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.