wahrte sich "entschieden" dagegen, mit dem "blutigen Re¬ volutionär" näher befreundet gewesen zu sein. Und da Anton Nölte nicht mehr zugegen war, um für Timpe Partei zu nehmen, so wurde der Letztere jeden Abend ein Dutzend Mal gekreuzigt -- eine menschenfreundliche Beschäftigung, bei der Jamrath mit Vergnügen konstatiren konnte, daß der Konsum der großen Weißen sich vermehrte. Selbst der lange Brümmer trank mehr als sonst und drückte bis halb elf seinen Stuhl -- eine Hintenansetzung seiner Lebensregel, die man in An¬ betracht dessen, daß er eine zanksüchtige Ehehälfte besaß, all¬ gemein bewunderte.
Zwei Tage vor Weihnachten machte Franzen's Frau noch einmal den Versuch, mit Johannes ein vernünftiges Wort zu reden; da ihr aber garnicht geöffnet wurde, mußte sie unverrichteter Sache wieder abziehen. Bis Neujahr hockte der Meister in seinem Bau, ohne von der Außenwelt mehr zu sehen als sein Gärtchen, die Wand des Kesselhauses und den Schornstein, der sich auf ihr thürmte.
Es war unverkennbare Schwermuth, die sich jetzt seiner bemächtigte und seinem Antlitz eine verklärende Milde gab. Sie verließ ihn nur, wenn er dem Schnapse zu sehr zu¬ gesprochen hatte. Er trank ihn jetzt, um nicht gänzlich zu erschlaffen und die letzten Kräfte zur Arbeit nicht zu ver¬ lieren. Dann röthete sich sein Gesicht, ein unnatürlicher Lebens¬ muth kam über ihn und er sprach laut vor sich hin, um das dumpfe Schweigen der Werkstatt zu brechen. Oftmals wurde er von dieser traurigen Existenz angeekelt, daß er nahe daran war, sich selbst zu verachten. Tage vergingen, ehe er eine warme Speise zu sich nahm. Seine Mahlzeiten bestanden nur noch aus Kaffee, Brod und etwas Räucherwaare. Hin
wahrte ſich „entſchieden“ dagegen, mit dem „blutigen Re¬ volutionär“ näher befreundet geweſen zu ſein. Und da Anton Nölte nicht mehr zugegen war, um für Timpe Partei zu nehmen, ſo wurde der Letztere jeden Abend ein Dutzend Mal gekreuzigt — eine menſchenfreundliche Beſchäftigung, bei der Jamrath mit Vergnügen konſtatiren konnte, daß der Konſum der großen Weißen ſich vermehrte. Selbſt der lange Brümmer trank mehr als ſonſt und drückte bis halb elf ſeinen Stuhl — eine Hintenanſetzung ſeiner Lebensregel, die man in An¬ betracht deſſen, daß er eine zankſüchtige Ehehälfte beſaß, all¬ gemein bewunderte.
Zwei Tage vor Weihnachten machte Franzen's Frau noch einmal den Verſuch, mit Johannes ein vernünftiges Wort zu reden; da ihr aber garnicht geöffnet wurde, mußte ſie unverrichteter Sache wieder abziehen. Bis Neujahr hockte der Meiſter in ſeinem Bau, ohne von der Außenwelt mehr zu ſehen als ſein Gärtchen, die Wand des Keſſelhauſes und den Schornſtein, der ſich auf ihr thürmte.
Es war unverkennbare Schwermuth, die ſich jetzt ſeiner bemächtigte und ſeinem Antlitz eine verklärende Milde gab. Sie verließ ihn nur, wenn er dem Schnapſe zu ſehr zu¬ geſprochen hatte. Er trank ihn jetzt, um nicht gänzlich zu erſchlaffen und die letzten Kräfte zur Arbeit nicht zu ver¬ lieren. Dann röthete ſich ſein Geſicht, ein unnatürlicher Lebens¬ muth kam über ihn und er ſprach laut vor ſich hin, um das dumpfe Schweigen der Werkſtatt zu brechen. Oftmals wurde er von dieſer traurigen Exiſtenz angeekelt, daß er nahe daran war, ſich ſelbſt zu verachten. Tage vergingen, ehe er eine warme Speiſe zu ſich nahm. Seine Mahlzeiten beſtanden nur noch aus Kaffee, Brod und etwas Räucherwaare. Hin
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0330"n="318"/>
wahrte ſich „entſchieden“ dagegen, mit dem „blutigen Re¬<lb/>
volutionär“ näher befreundet geweſen zu ſein. Und da Anton<lb/>
Nölte nicht mehr zugegen war, um für Timpe Partei zu<lb/>
nehmen, ſo wurde der Letztere jeden Abend ein Dutzend Mal<lb/>
gekreuzigt — eine menſchenfreundliche Beſchäftigung, bei der<lb/>
Jamrath mit <choice><sic>Vergnügeu</sic><corr>Vergnügen</corr></choice> konſtatiren konnte, daß der Konſum<lb/>
der großen Weißen ſich vermehrte. Selbſt der lange Brümmer<lb/>
trank mehr als ſonſt und drückte bis halb elf ſeinen Stuhl<lb/>— eine Hintenanſetzung ſeiner Lebensregel, die man in An¬<lb/>
betracht deſſen, daß er eine zankſüchtige Ehehälfte beſaß, all¬<lb/>
gemein bewunderte.</p><lb/><p>Zwei Tage vor Weihnachten machte Franzen's Frau<lb/>
noch einmal den Verſuch, mit Johannes ein vernünftiges<lb/>
Wort zu reden; da ihr aber garnicht geöffnet wurde, mußte<lb/>ſie unverrichteter Sache wieder abziehen. Bis Neujahr hockte<lb/>
der Meiſter in ſeinem Bau, ohne von der Außenwelt mehr<lb/>
zu ſehen als ſein Gärtchen, die Wand des Keſſelhauſes und<lb/>
den Schornſtein, der ſich auf ihr thürmte.</p><lb/><p>Es war unverkennbare Schwermuth, die ſich jetzt ſeiner<lb/>
bemächtigte und ſeinem Antlitz eine verklärende Milde gab.<lb/>
Sie verließ ihn nur, wenn er dem Schnapſe zu ſehr zu¬<lb/>
geſprochen hatte. Er trank ihn jetzt, um nicht gänzlich zu<lb/>
erſchlaffen und die letzten Kräfte zur Arbeit nicht zu ver¬<lb/>
lieren. Dann röthete ſich ſein Geſicht, ein unnatürlicher Lebens¬<lb/>
muth kam über ihn und er ſprach laut vor ſich hin, um das<lb/>
dumpfe Schweigen der Werkſtatt zu brechen. Oftmals wurde<lb/>
er von dieſer traurigen Exiſtenz angeekelt, daß er nahe<lb/>
daran war, ſich ſelbſt zu verachten. Tage vergingen, ehe er<lb/>
eine warme Speiſe zu ſich nahm. Seine Mahlzeiten beſtanden<lb/>
nur noch aus Kaffee, Brod und etwas Räucherwaare. Hin<lb/></p></div></body></text></TEI>
[318/0330]
wahrte ſich „entſchieden“ dagegen, mit dem „blutigen Re¬
volutionär“ näher befreundet geweſen zu ſein. Und da Anton
Nölte nicht mehr zugegen war, um für Timpe Partei zu
nehmen, ſo wurde der Letztere jeden Abend ein Dutzend Mal
gekreuzigt — eine menſchenfreundliche Beſchäftigung, bei der
Jamrath mit Vergnügen konſtatiren konnte, daß der Konſum
der großen Weißen ſich vermehrte. Selbſt der lange Brümmer
trank mehr als ſonſt und drückte bis halb elf ſeinen Stuhl
— eine Hintenanſetzung ſeiner Lebensregel, die man in An¬
betracht deſſen, daß er eine zankſüchtige Ehehälfte beſaß, all¬
gemein bewunderte.
Zwei Tage vor Weihnachten machte Franzen's Frau
noch einmal den Verſuch, mit Johannes ein vernünftiges
Wort zu reden; da ihr aber garnicht geöffnet wurde, mußte
ſie unverrichteter Sache wieder abziehen. Bis Neujahr hockte
der Meiſter in ſeinem Bau, ohne von der Außenwelt mehr
zu ſehen als ſein Gärtchen, die Wand des Keſſelhauſes und
den Schornſtein, der ſich auf ihr thürmte.
Es war unverkennbare Schwermuth, die ſich jetzt ſeiner
bemächtigte und ſeinem Antlitz eine verklärende Milde gab.
Sie verließ ihn nur, wenn er dem Schnapſe zu ſehr zu¬
geſprochen hatte. Er trank ihn jetzt, um nicht gänzlich zu
erſchlaffen und die letzten Kräfte zur Arbeit nicht zu ver¬
lieren. Dann röthete ſich ſein Geſicht, ein unnatürlicher Lebens¬
muth kam über ihn und er ſprach laut vor ſich hin, um das
dumpfe Schweigen der Werkſtatt zu brechen. Oftmals wurde
er von dieſer traurigen Exiſtenz angeekelt, daß er nahe
daran war, ſich ſelbſt zu verachten. Tage vergingen, ehe er
eine warme Speiſe zu ſich nahm. Seine Mahlzeiten beſtanden
nur noch aus Kaffee, Brod und etwas Räucherwaare. Hin
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/330>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.