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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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tasie hatte ihn getäuscht. Es waren die hellen Glockentöne
der Andreaskirche, die zum Gottesdienste riefen. Vor dem
erleuchteten Portal bannte er seine Schritte.

Eine längst vermißte Sehnsucht packte ihn, der Drang
eines Menschen, der, am Scheidewege des Lebens stehend, zur
letzten Wanderung neue Stärke sucht. Er trat ein. Die
Orgel erbrauste. Er ging den Seitengang entlang, stieg zur
Gallerie hinauf und setzte sich an derselben Stelle nieder, von
wo aus er einst mit seinem Weibe der Trauung des Einzigen
zugeblickt hatte. Die letzten Orgelklänge waren verrauscht,
nur dumpf hallte der Lärm des genießenden Berlins herein,
als der Prediger die Kanzel betrat. Es war ein noch junger
Mann mit kräftigem wohllautendem Organ. Er sprach über
den 25. Vers des Evangelii Johannis: Ich bin die Aufer¬
stehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben,
wenn gleich er auch stürbe, und wer da lebt und glaubt an
mich, der wird nimmermehr sterben.

Mächtig hallten seine Worte in dem hohen Raume wieder,
und mächtig packte er die Zuhörer. Des Meisters Haupt sank
tiefer und tiefer und die Hände schlangen sich krampfhaft in ein¬
ander. Er weinte still und heiß. Es war gerade, als schütte er
in dieser Stunde den ganzen Becher des Leidens aus, um
die ewige Glückseligkeit in ihn aufzunehmen. Als die Predigt
zu Ende war, erhob er sich wie verjüngt und verließ das
Gotteshaus. Er durchschritt die Straßen, entfernt sich immer
mehr von diesem Viertel, suchte die entferntesten Stadttheile
auf und kehrte erst spät in der Nacht nach Hause zurück. Er
konnte sich nicht entsinnen, seit Jahren so sanft entschlummert
zu sein, wie an diesem Tage.

Gleich in der Frühe suchte er einen Notar auf und

taſie hatte ihn getäuſcht. Es waren die hellen Glockentöne
der Andreaskirche, die zum Gottesdienſte riefen. Vor dem
erleuchteten Portal bannte er ſeine Schritte.

Eine längſt vermißte Sehnſucht packte ihn, der Drang
eines Menſchen, der, am Scheidewege des Lebens ſtehend, zur
letzten Wanderung neue Stärke ſucht. Er trat ein. Die
Orgel erbrauſte. Er ging den Seitengang entlang, ſtieg zur
Gallerie hinauf und ſetzte ſich an derſelben Stelle nieder, von
wo aus er einſt mit ſeinem Weibe der Trauung des Einzigen
zugeblickt hatte. Die letzten Orgelklänge waren verrauſcht,
nur dumpf hallte der Lärm des genießenden Berlins herein,
als der Prediger die Kanzel betrat. Es war ein noch junger
Mann mit kräftigem wohllautendem Organ. Er ſprach über
den 25. Vers des Evangelii Johannis: Ich bin die Aufer¬
ſtehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben,
wenn gleich er auch ſtürbe, und wer da lebt und glaubt an
mich, der wird nimmermehr ſterben.

Mächtig hallten ſeine Worte in dem hohen Raume wieder,
und mächtig packte er die Zuhörer. Des Meiſters Haupt ſank
tiefer und tiefer und die Hände ſchlangen ſich krampfhaft in ein¬
ander. Er weinte ſtill und heiß. Es war gerade, als ſchütte er
in dieſer Stunde den ganzen Becher des Leidens aus, um
die ewige Glückſeligkeit in ihn aufzunehmen. Als die Predigt
zu Ende war, erhob er ſich wie verjüngt und verließ das
Gotteshaus. Er durchſchritt die Straßen, entfernt ſich immer
mehr von dieſem Viertel, ſuchte die entfernteſten Stadttheile
auf und kehrte erſt ſpät in der Nacht nach Hauſe zurück. Er
konnte ſich nicht entſinnen, ſeit Jahren ſo ſanft entſchlummert
zu ſein, wie an dieſem Tage.

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[320/0332] taſie hatte ihn getäuſcht. Es waren die hellen Glockentöne der Andreaskirche, die zum Gottesdienſte riefen. Vor dem erleuchteten Portal bannte er ſeine Schritte. Eine längſt vermißte Sehnſucht packte ihn, der Drang eines Menſchen, der, am Scheidewege des Lebens ſtehend, zur letzten Wanderung neue Stärke ſucht. Er trat ein. Die Orgel erbrauſte. Er ging den Seitengang entlang, ſtieg zur Gallerie hinauf und ſetzte ſich an derſelben Stelle nieder, von wo aus er einſt mit ſeinem Weibe der Trauung des Einzigen zugeblickt hatte. Die letzten Orgelklänge waren verrauſcht, nur dumpf hallte der Lärm des genießenden Berlins herein, als der Prediger die Kanzel betrat. Es war ein noch junger Mann mit kräftigem wohllautendem Organ. Er ſprach über den 25. Vers des Evangelii Johannis: Ich bin die Aufer¬ ſtehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, wenn gleich er auch ſtürbe, und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr ſterben. Mächtig hallten ſeine Worte in dem hohen Raume wieder, und mächtig packte er die Zuhörer. Des Meiſters Haupt ſank tiefer und tiefer und die Hände ſchlangen ſich krampfhaft in ein¬ ander. Er weinte ſtill und heiß. Es war gerade, als ſchütte er in dieſer Stunde den ganzen Becher des Leidens aus, um die ewige Glückſeligkeit in ihn aufzunehmen. Als die Predigt zu Ende war, erhob er ſich wie verjüngt und verließ das Gotteshaus. Er durchſchritt die Straßen, entfernt ſich immer mehr von dieſem Viertel, ſuchte die entfernteſten Stadttheile auf und kehrte erſt ſpät in der Nacht nach Hauſe zurück. Er konnte ſich nicht entſinnen, ſeit Jahren ſo ſanft entſchlummert zu ſein, wie an dieſem Tage. Gleich in der Frühe ſuchte er einen Notar auf und

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/332>, abgerufen am 24.11.2024.