Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

"Von hier aus kann man weit sehen", hatte er herunter¬
gerufen. Und Johanens Timpe, der über die Waghalsigkeit
seines Einzigen erst erschrocken war, dann aber lachen mußte,
war ebenfalls zum Dachboden emporgestiegen, hatte seinen
behäbigen Korpus mit Mühe durch die Luke gedrängt und
neben seinem Sprößling Platz genommen.

Wahrhaftig, der Junge hatte Recht. Hier oben konnte
man sich über den Verlust der früheren Aussicht vortrefflich
trösten.

Dem Sohne zur Liebe wurde die Dachluke erweitert.
Die Gesellen mußten eine Art Brücke vom Dache bis zum
Baume schaffen; und zur Sicherheit wurde hoch oben in der
Krone rings um den Stamm ein Sitz mit Geländer an¬
gebracht und dieser Auslug, zu Ehren seines Entdeckers,
"Franzen's Ruh'" getauft. Johannes Timpe aber nannte
ihn seine "Warte". Der Aufenthalt zwischen Himmel
und Erde war eine vortreffliche Abwechselung in der Eintönig¬
keit der langen Abende und gab Veranlassung, sich noch wochen¬
lang darüber zu unterhalten.

Als der Großvater das Sägen und Hämmern über
seinem Kopfe vernahm, erkundigte er sich im Geheimen bei
den Gesellen nach der Ursache des Zimmerns, da man ihm
aus sehr bekannten Gründen wohlweislich von den Vorgängen
der neuesten Zeit nichts gesagt hatte. Er schwieg tagelang.
Eines Abends aber, als Meister Timpe vergnügt plaudernd
neben seinem Sohne auf der Warte saß, konnte der Greis
sich doch nicht enthalten, in einem Gespräche mit seiner
Schwiegertochter unten in der Laube die absichtlich laut ge¬
thane Bemerkung zu machen, daß zu seiner Zeit die Eltern
den Jungen die Hosen stramm gezogen hätten, wenn

„Von hier aus kann man weit ſehen“, hatte er herunter¬
gerufen. Und Johanens Timpe, der über die Waghalſigkeit
ſeines Einzigen erſt erſchrocken war, dann aber lachen mußte,
war ebenfalls zum Dachboden emporgeſtiegen, hatte ſeinen
behäbigen Korpus mit Mühe durch die Luke gedrängt und
neben ſeinem Sprößling Platz genommen.

Wahrhaftig, der Junge hatte Recht. Hier oben konnte
man ſich über den Verluſt der früheren Ausſicht vortrefflich
tröſten.

Dem Sohne zur Liebe wurde die Dachluke erweitert.
Die Geſellen mußten eine Art Brücke vom Dache bis zum
Baume ſchaffen; und zur Sicherheit wurde hoch oben in der
Krone rings um den Stamm ein Sitz mit Geländer an¬
gebracht und dieſer Auslug, zu Ehren ſeines Entdeckers,
„Franzen's Ruh'“ getauft. Johannes Timpe aber nannte
ihn ſeine „Warte“. Der Aufenthalt zwiſchen Himmel
und Erde war eine vortreffliche Abwechſelung in der Eintönig¬
keit der langen Abende und gab Veranlaſſung, ſich noch wochen¬
lang darüber zu unterhalten.

Als der Großvater das Sägen und Hämmern über
ſeinem Kopfe vernahm, erkundigte er ſich im Geheimen bei
den Geſellen nach der Urſache des Zimmerns, da man ihm
aus ſehr bekannten Gründen wohlweislich von den Vorgängen
der neueſten Zeit nichts geſagt hatte. Er ſchwieg tagelang.
Eines Abends aber, als Meiſter Timpe vergnügt plaudernd
neben ſeinem Sohne auf der Warte ſaß, konnte der Greis
ſich doch nicht enthalten, in einem Geſpräche mit ſeiner
Schwiegertochter unten in der Laube die abſichtlich laut ge¬
thane Bemerkung zu machen, daß zu ſeiner Zeit die Eltern
den Jungen die Hoſen ſtramm gezogen hätten, wenn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0037" n="25"/>
        <p>&#x201E;Von hier aus kann man weit &#x017F;ehen&#x201C;, hatte er herunter¬<lb/>
gerufen. Und Johanens Timpe, der über die Waghal&#x017F;igkeit<lb/>
&#x017F;eines Einzigen er&#x017F;t er&#x017F;chrocken war, dann aber lachen mußte,<lb/>
war ebenfalls zum Dachboden emporge&#x017F;tiegen, hatte &#x017F;einen<lb/>
behäbigen Korpus mit Mühe durch die Luke gedrängt und<lb/>
neben &#x017F;einem Sprößling Platz genommen.</p><lb/>
        <p>Wahrhaftig, der Junge hatte Recht. Hier oben konnte<lb/>
man &#x017F;ich über den Verlu&#x017F;t der früheren Aus&#x017F;icht vortrefflich<lb/>
trö&#x017F;ten.</p><lb/>
        <p>Dem Sohne zur Liebe wurde die Dachluke erweitert.<lb/>
Die Ge&#x017F;ellen mußten eine Art Brücke vom Dache bis zum<lb/>
Baume &#x017F;chaffen; und zur Sicherheit wurde hoch oben in der<lb/>
Krone rings um den Stamm ein Sitz mit Geländer an¬<lb/>
gebracht und die&#x017F;er Auslug, zu Ehren &#x017F;eines Entdeckers,<lb/>
&#x201E;Franzen's Ruh'&#x201C; getauft. Johannes Timpe aber nannte<lb/>
ihn &#x017F;eine &#x201E;Warte&#x201C;. Der Aufenthalt zwi&#x017F;chen Himmel<lb/>
und Erde war eine vortreffliche Abwech&#x017F;elung in der Eintönig¬<lb/>
keit der langen Abende und gab Veranla&#x017F;&#x017F;ung, &#x017F;ich noch wochen¬<lb/>
lang darüber zu unterhalten.</p><lb/>
        <p>Als der Großvater das Sägen und Hämmern über<lb/>
&#x017F;einem Kopfe vernahm, erkundigte er &#x017F;ich im Geheimen bei<lb/>
den Ge&#x017F;ellen nach der Ur&#x017F;ache des Zimmerns, da man ihm<lb/>
aus &#x017F;ehr bekannten Gründen wohlweislich von den Vorgängen<lb/>
der neue&#x017F;ten Zeit nichts ge&#x017F;agt hatte. Er &#x017F;chwieg tagelang.<lb/>
Eines Abends aber, als Mei&#x017F;ter Timpe vergnügt plaudernd<lb/>
neben &#x017F;einem Sohne auf der Warte &#x017F;aß, konnte der Greis<lb/>
&#x017F;ich doch nicht enthalten, in einem Ge&#x017F;präche mit &#x017F;einer<lb/>
Schwiegertochter unten in der Laube die ab&#x017F;ichtlich laut ge¬<lb/>
thane Bemerkung zu machen, daß zu &#x017F;einer Zeit die Eltern<lb/>
den Jungen die Ho&#x017F;en &#x017F;tramm gezogen hätten, wenn<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[25/0037] „Von hier aus kann man weit ſehen“, hatte er herunter¬ gerufen. Und Johanens Timpe, der über die Waghalſigkeit ſeines Einzigen erſt erſchrocken war, dann aber lachen mußte, war ebenfalls zum Dachboden emporgeſtiegen, hatte ſeinen behäbigen Korpus mit Mühe durch die Luke gedrängt und neben ſeinem Sprößling Platz genommen. Wahrhaftig, der Junge hatte Recht. Hier oben konnte man ſich über den Verluſt der früheren Ausſicht vortrefflich tröſten. Dem Sohne zur Liebe wurde die Dachluke erweitert. Die Geſellen mußten eine Art Brücke vom Dache bis zum Baume ſchaffen; und zur Sicherheit wurde hoch oben in der Krone rings um den Stamm ein Sitz mit Geländer an¬ gebracht und dieſer Auslug, zu Ehren ſeines Entdeckers, „Franzen's Ruh'“ getauft. Johannes Timpe aber nannte ihn ſeine „Warte“. Der Aufenthalt zwiſchen Himmel und Erde war eine vortreffliche Abwechſelung in der Eintönig¬ keit der langen Abende und gab Veranlaſſung, ſich noch wochen¬ lang darüber zu unterhalten. Als der Großvater das Sägen und Hämmern über ſeinem Kopfe vernahm, erkundigte er ſich im Geheimen bei den Geſellen nach der Urſache des Zimmerns, da man ihm aus ſehr bekannten Gründen wohlweislich von den Vorgängen der neueſten Zeit nichts geſagt hatte. Er ſchwieg tagelang. Eines Abends aber, als Meiſter Timpe vergnügt plaudernd neben ſeinem Sohne auf der Warte ſaß, konnte der Greis ſich doch nicht enthalten, in einem Geſpräche mit ſeiner Schwiegertochter unten in der Laube die abſichtlich laut ge¬ thane Bemerkung zu machen, daß zu ſeiner Zeit die Eltern den Jungen die Hoſen ſtramm gezogen hätten, wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/37
Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/37>, abgerufen am 21.11.2024.