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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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Wipfel wiegt sich der freie, fröhliche Vogel! In unsern geschichtlichen
Schlupfwinkeln verpuppt sich die graue, schläferige Raupe, aus Ame¬
rika's Blüthenkelchen trinkt der Schmetterling seine Psyche-Unsterb¬
lichkeit!"

"Ein Mann von riesigem Leibe kam an ein Wasser, daran fand
er ein Knäblein spielen. Das Knäblein sagte: Mann trag' mich über
das Wasser, denn deine Schultern sind stark. Und der Mann hob
das kleine, federleichte Körperchen auf, und trug es durchs Wasser.
Aber im Tragen verwandelte sich das Kind in eine schwere, gewichtige
Last. Wie geht das zu? wunderte sich der Mann, trag' ich doch ein
schmales, schmächtiges Knäblein! Du irrst dich, antwortete dieses, Him¬
mel und Erde trägst du auf deinen Schultern. -- Darf ich dieser
Legende nicht hier gedenken am Bord meines Auswandererschiffes?
Der große Christoph sind wir, die alte Weltgeschichte; auf unsern
Schultern stehst du, Amerika, das wir in kleinsten Anfängen über die
atlantische Wassergränze trugen; aber wundergleich überflügelt uns
dein Gewicht, und wahrlich! du bist der Heiland, der uns einst Alle
erlösen wird! Glückzu, daß du nicht zu sterben brauchst für uns, daß
du leben wirst, leben, und nichts als leben! Zurück ihr Tragiker, die
ihr den Angstschweiß, die Thränen, das Blut von hingerichteten Welt¬
ideen in den goldnen Schalen eurer Verse sammelt; hier füllen sich
nicht eure Schalen. Nach Asien geht, nach Europa! Dort spricht man
den Besten und Tugendhaftesten die Todesstrafe zu; -- hier werden
sie zu Präsidenten erwählt!" --

"Amerika ist ein Bau, bei welchem die menschliche Vernunft zum
erstenmale das Gesetz der Schwere fand. Die Staatsgebäude der alten
Welt fingen mit der Kuppel an. Der König und der Hohepriester
wölbten vor Allem das unermeßliche Dach. Dann kamen die Vasallen,
die Ritter und Krieger und stellten ihre Säulen darunter. Unter die
Säulen setzte das Bürgerthum seine Sockel. Vom Sockel abwärts
endete das Gebäude. Die Sudras, die Pariahs, die Fellahs, die leib¬
eigenen Bauern, -- sie waren ein verwahrloster Untergrund. Die
Baukunst that nichts für ihren Bestand, sie erlaubte blos ihr na¬
türliches Dasein. Das Fundament war geduldet. Trug es den
schweren überladenen Bau, so that es das Glück; trug es ihn nicht,
so sank er langsam mit dem zerquetschten Volksleben in die Erde, wie

Wipfel wiegt ſich der freie, fröhliche Vogel! In unſern geſchichtlichen
Schlupfwinkeln verpuppt ſich die graue, ſchläferige Raupe, aus Ame¬
rika's Blüthenkelchen trinkt der Schmetterling ſeine Pſyche-Unſterb¬
lichkeit!“

„Ein Mann von rieſigem Leibe kam an ein Waſſer, daran fand
er ein Knäblein ſpielen. Das Knäblein ſagte: Mann trag' mich über
das Waſſer, denn deine Schultern ſind ſtark. Und der Mann hob
das kleine, federleichte Körperchen auf, und trug es durchs Waſſer.
Aber im Tragen verwandelte ſich das Kind in eine ſchwere, gewichtige
Laſt. Wie geht das zu? wunderte ſich der Mann, trag' ich doch ein
ſchmales, ſchmächtiges Knäblein! Du irrſt dich, antwortete dieſes, Him¬
mel und Erde trägſt du auf deinen Schultern. — Darf ich dieſer
Legende nicht hier gedenken am Bord meines Auswandererſchiffes?
Der große Chriſtoph ſind wir, die alte Weltgeſchichte; auf unſern
Schultern ſtehſt du, Amerika, das wir in kleinſten Anfängen über die
atlantiſche Waſſergränze trugen; aber wundergleich überflügelt uns
dein Gewicht, und wahrlich! du biſt der Heiland, der uns einſt Alle
erlöſen wird! Glückzu, daß du nicht zu ſterben brauchſt für uns, daß
du leben wirſt, leben, und nichts als leben! Zurück ihr Tragiker, die
ihr den Angſtſchweiß, die Thränen, das Blut von hingerichteten Welt¬
ideen in den goldnen Schalen eurer Verſe ſammelt; hier füllen ſich
nicht eure Schalen. Nach Aſien geht, nach Europa! Dort ſpricht man
den Beſten und Tugendhafteſten die Todesſtrafe zu; — hier werden
ſie zu Präſidenten erwählt!“ —

„Amerika iſt ein Bau, bei welchem die menſchliche Vernunft zum
erſtenmale das Geſetz der Schwere fand. Die Staatsgebäude der alten
Welt fingen mit der Kuppel an. Der König und der Hoheprieſter
wölbten vor Allem das unermeßliche Dach. Dann kamen die Vaſallen,
die Ritter und Krieger und ſtellten ihre Säulen darunter. Unter die
Säulen ſetzte das Bürgerthum ſeine Sockel. Vom Sockel abwärts
endete das Gebäude. Die Sudras, die Pariahs, die Fellahs, die leib¬
eigenen Bauern, — ſie waren ein verwahrloster Untergrund. Die
Baukunſt that nichts für ihren Beſtand, ſie erlaubte blos ihr na¬
türliches Daſein. Das Fundament war geduldet. Trug es den
ſchweren überladenen Bau, ſo that es das Glück; trug es ihn nicht,
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[2/0020] Wipfel wiegt ſich der freie, fröhliche Vogel! In unſern geſchichtlichen Schlupfwinkeln verpuppt ſich die graue, ſchläferige Raupe, aus Ame¬ rika's Blüthenkelchen trinkt der Schmetterling ſeine Pſyche-Unſterb¬ lichkeit!“ „Ein Mann von rieſigem Leibe kam an ein Waſſer, daran fand er ein Knäblein ſpielen. Das Knäblein ſagte: Mann trag' mich über das Waſſer, denn deine Schultern ſind ſtark. Und der Mann hob das kleine, federleichte Körperchen auf, und trug es durchs Waſſer. Aber im Tragen verwandelte ſich das Kind in eine ſchwere, gewichtige Laſt. Wie geht das zu? wunderte ſich der Mann, trag' ich doch ein ſchmales, ſchmächtiges Knäblein! Du irrſt dich, antwortete dieſes, Him¬ mel und Erde trägſt du auf deinen Schultern. — Darf ich dieſer Legende nicht hier gedenken am Bord meines Auswandererſchiffes? Der große Chriſtoph ſind wir, die alte Weltgeſchichte; auf unſern Schultern ſtehſt du, Amerika, das wir in kleinſten Anfängen über die atlantiſche Waſſergränze trugen; aber wundergleich überflügelt uns dein Gewicht, und wahrlich! du biſt der Heiland, der uns einſt Alle erlöſen wird! Glückzu, daß du nicht zu ſterben brauchſt für uns, daß du leben wirſt, leben, und nichts als leben! Zurück ihr Tragiker, die ihr den Angſtſchweiß, die Thränen, das Blut von hingerichteten Welt¬ ideen in den goldnen Schalen eurer Verſe ſammelt; hier füllen ſich nicht eure Schalen. Nach Aſien geht, nach Europa! Dort ſpricht man den Beſten und Tugendhafteſten die Todesſtrafe zu; — hier werden ſie zu Präſidenten erwählt!“ — „Amerika iſt ein Bau, bei welchem die menſchliche Vernunft zum erſtenmale das Geſetz der Schwere fand. Die Staatsgebäude der alten Welt fingen mit der Kuppel an. Der König und der Hoheprieſter wölbten vor Allem das unermeßliche Dach. Dann kamen die Vaſallen, die Ritter und Krieger und ſtellten ihre Säulen darunter. Unter die Säulen ſetzte das Bürgerthum ſeine Sockel. Vom Sockel abwärts endete das Gebäude. Die Sudras, die Pariahs, die Fellahs, die leib¬ eigenen Bauern, — ſie waren ein verwahrloster Untergrund. Die Baukunſt that nichts für ihren Beſtand, ſie erlaubte blos ihr na¬ türliches Daſein. Das Fundament war geduldet. Trug es den ſchweren überladenen Bau, ſo that es das Glück; trug es ihn nicht, ſo ſank er langſam mit dem zerquetſchten Volksleben in die Erde, wie

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/20>, abgerufen am 21.11.2024.