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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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Einige Secunden lang berauschte diese Scene uns völlig. Allmälig
kehrte der Gebrauch der äußeren Sinne wieder zurück. Und jetzt ge¬
schah uns sonderbar. Wir bemerkten, daß das Meer um uns her in
einen Wellenschlag gerieth. Auch die Wände des Eisberges schienen
außer der Ortsveränderung unseres Bootes einer ihnen eigenthüm¬
lichen Bewegung zu folgen. Der Eisberg ruhte nicht, er schwamm.
Gleichzeitig zeigte sich's, daß die Lichtzugänge ins Berginnere sich ab¬
wechselnd schlossen und öffneten und zwar in ziemlich rascher Folge des
Einen wie des Andern. Bei dieser Beobachtung wurde uns über¬
haupt der Grund dieses Lichtzuflusses klar. Wir entdeckten, daß der
Eisblock in seiner ganzen Breite von Einem Ende zum andern --
zerborsten war! Dieser Riß war es, der zu Häupten uns den Him¬
mel öffnete, indem er zu Füßen uns den Todesabgrund legte. Der
schwimmende Eiscoloß konnte in jedem Augenblick in sich zusammen¬
stürzen. Mit angehaltenem Athem flüsterte ich diese Entdeckung mei¬
nen beiden Gefährten zu. Sie nickten mir stumm zurück und die
Blässe ihrer Mienen zeigte, daß sie unsern Zustand bereits kannten.
Unsre Lage war fürchterlich. Wir sahen vor und hinter uns, überall
schien der Ausweg eine gleich lange Bahn von Gefahr. Wir lausch¬
ten mit wirbelnden Sinnen, in welcher Richtung die Meeresströmung
treibe; aber die Wellen taumelten unregelmäßig durcheinander. End¬
lich legten wir instinctmäßig die Ruder ein, Jeder von uns empfahl
im Stillen seine Seele, und pfeilschnell schossen wir die Eiswände
dahin. Glücklich gelangten wir unter den freien Himmel hinaus.
Ein donnerndes Hurrah der Matrosen begrüßte ihn. Noch hatten
wir unser Schiff nicht erreicht, da krachte die mürbe Eismasse zusam¬
men, regte das Meer weit und breit auf und erfüllte es mit ihren
Trümmern. Traurig sah ich sie treiben. Sie hatten mir einen
Hochpunkt des Lebens geschenkt, und leicht vergaß ich, daß sie bald
das Leben selbst dafür gefordert. Aber gibt sich die Schönheit über¬
haupt wohl für geringeren Preis? -- Das, verehrteste Miß, ist es,
was ich "Freundliches aus dem Eismeere berichten kann."

Das junge Mädchen war mit regsamster Phantasie dieser Er¬
zählung gefolgt. Sie hatte zuletzt vergessen, daß sie Dichtung höre,
sie hatte der "Cour des Winkels" vergessen, und wie sie ihre Aner¬
kennung innerhalb dieser Sitte ausdrücken könne. Gefesselt stand sie

Einige Secunden lang berauſchte dieſe Scene uns völlig. Allmälig
kehrte der Gebrauch der äußeren Sinne wieder zurück. Und jetzt ge¬
ſchah uns ſonderbar. Wir bemerkten, daß das Meer um uns her in
einen Wellenſchlag gerieth. Auch die Wände des Eisberges ſchienen
außer der Ortsveränderung unſeres Bootes einer ihnen eigenthüm¬
lichen Bewegung zu folgen. Der Eisberg ruhte nicht, er ſchwamm.
Gleichzeitig zeigte ſich's, daß die Lichtzugänge ins Berginnere ſich ab¬
wechſelnd ſchloſſen und öffneten und zwar in ziemlich raſcher Folge des
Einen wie des Andern. Bei dieſer Beobachtung wurde uns über¬
haupt der Grund dieſes Lichtzufluſſes klar. Wir entdeckten, daß der
Eisblock in ſeiner ganzen Breite von Einem Ende zum andern —
zerborſten war! Dieſer Riß war es, der zu Häupten uns den Him¬
mel öffnete, indem er zu Füßen uns den Todesabgrund legte. Der
ſchwimmende Eiscoloß konnte in jedem Augenblick in ſich zuſammen¬
ſtürzen. Mit angehaltenem Athem flüſterte ich dieſe Entdeckung mei¬
nen beiden Gefährten zu. Sie nickten mir ſtumm zurück und die
Bläſſe ihrer Mienen zeigte, daß ſie unſern Zuſtand bereits kannten.
Unſre Lage war fürchterlich. Wir ſahen vor und hinter uns, überall
ſchien der Ausweg eine gleich lange Bahn von Gefahr. Wir lauſch¬
ten mit wirbelnden Sinnen, in welcher Richtung die Meeresſtrömung
treibe; aber die Wellen taumelten unregelmäßig durcheinander. End¬
lich legten wir inſtinctmäßig die Ruder ein, Jeder von uns empfahl
im Stillen ſeine Seele, und pfeilſchnell ſchoſſen wir die Eiswände
dahin. Glücklich gelangten wir unter den freien Himmel hinaus.
Ein donnerndes Hurrah der Matroſen begrüßte ihn. Noch hatten
wir unſer Schiff nicht erreicht, da krachte die mürbe Eismaſſe zuſam¬
men, regte das Meer weit und breit auf und erfüllte es mit ihren
Trümmern. Traurig ſah ich ſie treiben. Sie hatten mir einen
Hochpunkt des Lebens geſchenkt, und leicht vergaß ich, daß ſie bald
das Leben ſelbſt dafür gefordert. Aber gibt ſich die Schönheit über¬
haupt wohl für geringeren Preis? — Das, verehrteſte Miß, iſt es,
was ich „Freundliches aus dem Eismeere berichten kann.“

Das junge Mädchen war mit regſamſter Phantaſie dieſer Er¬
zählung gefolgt. Sie hatte zuletzt vergeſſen, daß ſie Dichtung höre,
ſie hatte der „Cour des Winkels“ vergeſſen, und wie ſie ihre Aner¬
kennung innerhalb dieſer Sitte ausdrücken könne. Gefeſſelt ſtand ſie

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[238/0256] Einige Secunden lang berauſchte dieſe Scene uns völlig. Allmälig kehrte der Gebrauch der äußeren Sinne wieder zurück. Und jetzt ge¬ ſchah uns ſonderbar. Wir bemerkten, daß das Meer um uns her in einen Wellenſchlag gerieth. Auch die Wände des Eisberges ſchienen außer der Ortsveränderung unſeres Bootes einer ihnen eigenthüm¬ lichen Bewegung zu folgen. Der Eisberg ruhte nicht, er ſchwamm. Gleichzeitig zeigte ſich's, daß die Lichtzugänge ins Berginnere ſich ab¬ wechſelnd ſchloſſen und öffneten und zwar in ziemlich raſcher Folge des Einen wie des Andern. Bei dieſer Beobachtung wurde uns über¬ haupt der Grund dieſes Lichtzufluſſes klar. Wir entdeckten, daß der Eisblock in ſeiner ganzen Breite von Einem Ende zum andern — zerborſten war! Dieſer Riß war es, der zu Häupten uns den Him¬ mel öffnete, indem er zu Füßen uns den Todesabgrund legte. Der ſchwimmende Eiscoloß konnte in jedem Augenblick in ſich zuſammen¬ ſtürzen. Mit angehaltenem Athem flüſterte ich dieſe Entdeckung mei¬ nen beiden Gefährten zu. Sie nickten mir ſtumm zurück und die Bläſſe ihrer Mienen zeigte, daß ſie unſern Zuſtand bereits kannten. Unſre Lage war fürchterlich. Wir ſahen vor und hinter uns, überall ſchien der Ausweg eine gleich lange Bahn von Gefahr. Wir lauſch¬ ten mit wirbelnden Sinnen, in welcher Richtung die Meeresſtrömung treibe; aber die Wellen taumelten unregelmäßig durcheinander. End¬ lich legten wir inſtinctmäßig die Ruder ein, Jeder von uns empfahl im Stillen ſeine Seele, und pfeilſchnell ſchoſſen wir die Eiswände dahin. Glücklich gelangten wir unter den freien Himmel hinaus. Ein donnerndes Hurrah der Matroſen begrüßte ihn. Noch hatten wir unſer Schiff nicht erreicht, da krachte die mürbe Eismaſſe zuſam¬ men, regte das Meer weit und breit auf und erfüllte es mit ihren Trümmern. Traurig ſah ich ſie treiben. Sie hatten mir einen Hochpunkt des Lebens geſchenkt, und leicht vergaß ich, daß ſie bald das Leben ſelbſt dafür gefordert. Aber gibt ſich die Schönheit über¬ haupt wohl für geringeren Preis? — Das, verehrteſte Miß, iſt es, was ich „Freundliches aus dem Eismeere berichten kann.“ Das junge Mädchen war mit regſamſter Phantaſie dieſer Er¬ zählung gefolgt. Sie hatte zuletzt vergeſſen, daß ſie Dichtung höre, ſie hatte der „Cour des Winkels“ vergeſſen, und wie ſie ihre Aner¬ kennung innerhalb dieſer Sitte ausdrücken könne. Gefeſſelt ſtand ſie

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/256>, abgerufen am 22.11.2024.