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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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Wächter übersieht fünfhundert Zellen! Der Kerl sitzt wie eine Spinne
in ihrem Sacke, von ihm spannt sich der ganze grauenvolle Fächerbau
des Gefängnisses aus, kein Zellenfenster blickt in das andere und er in
sie alle! Eben so predigt Sonntags der Prediger aus diesem Mittel¬
punkte den Sträflingen das Wort Gottes; an ihre Eisenthüren ge¬
klammert, strecken sich fünfhundert bleiche Köpfe nach ihm vor, eine
ganze Volksversammlung! und jeder Einzelne ist einsam und
Keiner bekommt den Andern zu Gesichte. Das heiß' ich Netze
flechten! Das Haus verwahrt gegenwärtig dreihundert Gefan¬
gene. Nur dreißig davon sind Deutsche. Und selbst diese büßen
größentheils wegen Pferdediebstahl, ein Vergehen, das in Amerika sehr
schwer wiegt, aber in Ungarn sehr leicht. Ei Miklos, warum so traurig,
fragt' ich in meinem Geburtsorte einst einen Czikos. Ein Schlingel
hat mir Pferd von der Heerde gestohlen, antwortete der Roßhirt. Dann
zeig's den Gerichten an, erwiderte ich. Wo sind Gerichte? Stuhl¬
richter liegt besoffen auf der Hochzeit von Janos Jranyi, Vicegespann
ist gefahren auf Jagd -- Nun was willst du machen? -- Bassama!
stehl ich mir anders Pferd, sagte der offenherzige Natursohn, ein Kerl,
dem ich mein letztes Hemd vertraut hätte, aber das Pferd hat er mit
höchster Wahrscheinlichkeit wirklich gestohlen. Kurz, es ist ein ungeheurer
moralischer Unterschied, ob ich Jemanden Geld aus der Kiste nehme,
oder Geldeswerth vom freien Felde weg in Gestalt eines freien Natur¬
geschöpfes. Das scheint aber der Yankee, der nicht empfinden, sondern
nur rechnen kann, nicht zu unterscheiden und unsre armen Deutschen,
die von Schiffsmaklern, Agenten, Land-Jobbern u. s. w. vielleicht zehn¬
fach ärger geplündert worden, verzweifeln nun, weil sie sich vier noth¬
wendige Beine von fremder Weide holten, in den grauenvollen Penn¬
sylvaniazellen. Ich sage, sie verzweifeln und das ist wahrlich keine
sentimentale Unterstellung. Die statistischen Schneiderellen, die überall
das Maß nehmen, haben sich eingebildet, es auch hier nehmen zu
können, und glücklich herausdividirt, daß nur zwei Procent Selbst¬
morde oder Wahnsinn im Pennsylvaniagefängniß vorkommen. Wohl
verstanden: im Gefängniß, wie viel aber draußen als Nachwirkung
einer Pennsylvaniahaft, so weit reicht die Schneiderelle nicht mehr. --
Mein Besuch in diesem Marterhause traf auf einen Deutschen aus
Rheinbaiern, ein junger Mann nicht ohne Bildung. Auch seine Ge¬

Wächter überſieht fünfhundert Zellen! Der Kerl ſitzt wie eine Spinne
in ihrem Sacke, von ihm ſpannt ſich der ganze grauenvolle Fächerbau
des Gefängniſſes aus, kein Zellenfenſter blickt in das andere und er in
ſie alle! Eben ſo predigt Sonntags der Prediger aus dieſem Mittel¬
punkte den Sträflingen das Wort Gottes; an ihre Eiſenthüren ge¬
klammert, ſtrecken ſich fünfhundert bleiche Köpfe nach ihm vor, eine
ganze Volksverſammlung! und jeder Einzelne iſt einſam und
Keiner bekommt den Andern zu Geſichte. Das heiß' ich Netze
flechten! Das Haus verwahrt gegenwärtig dreihundert Gefan¬
gene. Nur dreißig davon ſind Deutſche. Und ſelbſt dieſe büßen
größentheils wegen Pferdediebſtahl, ein Vergehen, das in Amerika ſehr
ſchwer wiegt, aber in Ungarn ſehr leicht. Ei Miklós, warum ſo traurig,
fragt' ich in meinem Geburtsorte einſt einen Czikós. Ein Schlingel
hat mir Pferd von der Heerde geſtohlen, antwortete der Roßhirt. Dann
zeig's den Gerichten an, erwiderte ich. Wo ſind Gerichte? Stuhl¬
richter liegt beſoffen auf der Hochzeit von János Jranyi, Vicegeſpann
iſt gefahren auf Jagd — Nun was willſt du machen? — Bassama!
ſtehl ich mir anders Pferd, ſagte der offenherzige Naturſohn, ein Kerl,
dem ich mein letztes Hemd vertraut hätte, aber das Pferd hat er mit
höchſter Wahrſcheinlichkeit wirklich geſtohlen. Kurz, es iſt ein ungeheurer
moraliſcher Unterſchied, ob ich Jemanden Geld aus der Kiſte nehme,
oder Geldeswerth vom freien Felde weg in Geſtalt eines freien Natur¬
geſchöpfes. Das ſcheint aber der Yankee, der nicht empfinden, ſondern
nur rechnen kann, nicht zu unterſcheiden und unſre armen Deutſchen,
die von Schiffsmaklern, Agenten, Land-Jobbern u. ſ. w. vielleicht zehn¬
fach ärger geplündert worden, verzweifeln nun, weil ſie ſich vier noth¬
wendige Beine von fremder Weide holten, in den grauenvollen Penn¬
ſylvaniazellen. Ich ſage, ſie verzweifeln und das iſt wahrlich keine
ſentimentale Unterſtellung. Die ſtatiſtiſchen Schneiderellen, die überall
das Maß nehmen, haben ſich eingebildet, es auch hier nehmen zu
können, und glücklich herausdividirt, daß nur zwei Procent Selbſt¬
morde oder Wahnſinn im Pennſylvaniagefängniß vorkommen. Wohl
verſtanden: im Gefängniß, wie viel aber draußen als Nachwirkung
einer Pennſylvaniahaft, ſo weit reicht die Schneiderelle nicht mehr. —
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Rheinbaiern, ein junger Mann nicht ohne Bildung. Auch ſeine Ge¬

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[267/0285] Wächter überſieht fünfhundert Zellen! Der Kerl ſitzt wie eine Spinne in ihrem Sacke, von ihm ſpannt ſich der ganze grauenvolle Fächerbau des Gefängniſſes aus, kein Zellenfenſter blickt in das andere und er in ſie alle! Eben ſo predigt Sonntags der Prediger aus dieſem Mittel¬ punkte den Sträflingen das Wort Gottes; an ihre Eiſenthüren ge¬ klammert, ſtrecken ſich fünfhundert bleiche Köpfe nach ihm vor, eine ganze Volksverſammlung! und jeder Einzelne iſt einſam und Keiner bekommt den Andern zu Geſichte. Das heiß' ich Netze flechten! Das Haus verwahrt gegenwärtig dreihundert Gefan¬ gene. Nur dreißig davon ſind Deutſche. Und ſelbſt dieſe büßen größentheils wegen Pferdediebſtahl, ein Vergehen, das in Amerika ſehr ſchwer wiegt, aber in Ungarn ſehr leicht. Ei Miklós, warum ſo traurig, fragt' ich in meinem Geburtsorte einſt einen Czikós. Ein Schlingel hat mir Pferd von der Heerde geſtohlen, antwortete der Roßhirt. Dann zeig's den Gerichten an, erwiderte ich. Wo ſind Gerichte? Stuhl¬ richter liegt beſoffen auf der Hochzeit von János Jranyi, Vicegeſpann iſt gefahren auf Jagd — Nun was willſt du machen? — Bassama! ſtehl ich mir anders Pferd, ſagte der offenherzige Naturſohn, ein Kerl, dem ich mein letztes Hemd vertraut hätte, aber das Pferd hat er mit höchſter Wahrſcheinlichkeit wirklich geſtohlen. Kurz, es iſt ein ungeheurer moraliſcher Unterſchied, ob ich Jemanden Geld aus der Kiſte nehme, oder Geldeswerth vom freien Felde weg in Geſtalt eines freien Natur¬ geſchöpfes. Das ſcheint aber der Yankee, der nicht empfinden, ſondern nur rechnen kann, nicht zu unterſcheiden und unſre armen Deutſchen, die von Schiffsmaklern, Agenten, Land-Jobbern u. ſ. w. vielleicht zehn¬ fach ärger geplündert worden, verzweifeln nun, weil ſie ſich vier noth¬ wendige Beine von fremder Weide holten, in den grauenvollen Penn¬ ſylvaniazellen. Ich ſage, ſie verzweifeln und das iſt wahrlich keine ſentimentale Unterſtellung. Die ſtatiſtiſchen Schneiderellen, die überall das Maß nehmen, haben ſich eingebildet, es auch hier nehmen zu können, und glücklich herausdividirt, daß nur zwei Procent Selbſt¬ morde oder Wahnſinn im Pennſylvaniagefängniß vorkommen. Wohl verſtanden: im Gefängniß, wie viel aber draußen als Nachwirkung einer Pennſylvaniahaft, ſo weit reicht die Schneiderelle nicht mehr. — Mein Beſuch in dieſem Marterhauſe traf auf einen Deutſchen aus Rheinbaiern, ein junger Mann nicht ohne Bildung. Auch ſeine Ge¬

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/285>, abgerufen am 22.11.2024.