Pennsylvania-Reise sich die Umstimmung bezeugte: "in diesem Lande nicht Muster zu sehen, sondern Muster zu geben. Diese Freien, hieß es, müssen durch uns Verknechtete ein wenig freier werden." Allmälig aber langen wir an dem Punkte an, wo es sich frägt, ob er auch dazu noch Lust und Kraft übrig behält.
Anhorst ist fort und Benthal noch nicht da. Ein schlimmer Um¬ stand in einer Lage, die durch sich selbst so wenig Anziehungskraft übt! Daß aber diese beiden Geschenke des Zufalls unserm Helden so bald zur Nothwendigkeit geworden, kann nicht gegen die Kraft und Selbst¬ ständigkeit seines Charakters zeugen. Kein Mensch erträgt einen neuen Gedanken, geht einen neuen Weg ohne das Princip der Genossenschaft. Ohne Remus kein Romulus, ohne Cassius kein Brutus, selbst kein Columbus ohne die Pinzon's.
Was Anhorst's Rückkehr betraf, so entzog sie sich einer strikten Wahrscheinlichkeitsrechnung; einem Briefe Benthal's dagegen rechnete Moorfeld seine Ankunft schon nach Stunden und Minuten zu. Zwar währt sein Aufenthalt in Ohio noch nicht so nennenswerth lange, keinesfalls so lange, als es unter so vielen neuen Bildern und Ein¬ drücken, welche überdies fast alle die Fähigkeit haben, sich rasch wieder auszuleben, den Schein gewinnen mag. Wir zählen kaum die achte Woche der Ansiedlung Moorfeld's, und ging seine erste Briefsendung an Benthal von Pittsburg ein wenig früher ab, so datirt das Packet, welches erst seine Adresse enthielt, auch etwas später. Bedenken wir dazu, daß wir von einer Zeit sprechen, in welcher das Pennsylvanische Eisenbahnsystem zwar im Beginn, aber noch nicht am Ziele, und na¬ mentlich die großartige Alleghanny-Portage-Eisenbahn Hudson und Ohio noch nicht mit Dampfeskraft verband, so wird in den Tagen, welche wir gegenwärtig darstellen, ein Brief von Benthal zwar ankom¬ men können, aber eben nur können. Moorfeld überstürzte auch seine Berechnung keineswegs. Aber genug, daß eine Berechnung nie zur Beruhigung führt, vielmehr just an dem Punkte anfängt, wo auch die Unruhe anfängt. Wie ein Mensch, der sich ein ausnahmsweise frühes Erwachen vornimmt, seinen Schlaf nicht etwa um diese Morgen¬ stunden kürzt, sondern den ganzen Schlaf sich verdirbt, weil die Seele im Traume rechnet und überhaupt nichts anders träumt als das Erwachen: so stört solch ein Rechnen den Genuß, die Perspective, das
Pennſylvania-Reiſe ſich die Umſtimmung bezeugte: „in dieſem Lande nicht Muſter zu ſehen, ſondern Muſter zu geben. Dieſe Freien, hieß es, müſſen durch uns Verknechtete ein wenig freier werden.“ Allmälig aber langen wir an dem Punkte an, wo es ſich frägt, ob er auch dazu noch Luſt und Kraft übrig behält.
Anhorſt iſt fort und Benthal noch nicht da. Ein ſchlimmer Um¬ ſtand in einer Lage, die durch ſich ſelbſt ſo wenig Anziehungskraft übt! Daß aber dieſe beiden Geſchenke des Zufalls unſerm Helden ſo bald zur Nothwendigkeit geworden, kann nicht gegen die Kraft und Selbſt¬ ſtändigkeit ſeines Charakters zeugen. Kein Menſch erträgt einen neuen Gedanken, geht einen neuen Weg ohne das Princip der Genoſſenſchaft. Ohne Remus kein Romulus, ohne Caſſius kein Brutus, ſelbſt kein Columbus ohne die Pinzon's.
Was Anhorſt's Rückkehr betraf, ſo entzog ſie ſich einer ſtrikten Wahrſcheinlichkeitsrechnung; einem Briefe Benthal's dagegen rechnete Moorfeld ſeine Ankunft ſchon nach Stunden und Minuten zu. Zwar währt ſein Aufenthalt in Ohio noch nicht ſo nennenswerth lange, keinesfalls ſo lange, als es unter ſo vielen neuen Bildern und Ein¬ drücken, welche überdies faſt alle die Fähigkeit haben, ſich raſch wieder auszuleben, den Schein gewinnen mag. Wir zählen kaum die achte Woche der Anſiedlung Moorfeld's, und ging ſeine erſte Briefſendung an Benthal von Pittsburg ein wenig früher ab, ſo datirt das Packet, welches erſt ſeine Adreſſe enthielt, auch etwas ſpäter. Bedenken wir dazu, daß wir von einer Zeit ſprechen, in welcher das Pennſylvaniſche Eiſenbahnſyſtem zwar im Beginn, aber noch nicht am Ziele, und na¬ mentlich die großartige Alleghanny-Portage-Eiſenbahn Hudſon und Ohio noch nicht mit Dampfeskraft verband, ſo wird in den Tagen, welche wir gegenwärtig darſtellen, ein Brief von Benthal zwar ankom¬ men können, aber eben nur können. Moorfeld überſtürzte auch ſeine Berechnung keineswegs. Aber genug, daß eine Berechnung nie zur Beruhigung führt, vielmehr juſt an dem Punkte anfängt, wo auch die Unruhe anfängt. Wie ein Menſch, der ſich ein ausnahmsweiſe frühes Erwachen vornimmt, ſeinen Schlaf nicht etwa um dieſe Morgen¬ ſtunden kürzt, ſondern den ganzen Schlaf ſich verdirbt, weil die Seele im Traume rechnet und überhaupt nichts anders träumt als das Erwachen: ſo ſtört ſolch ein Rechnen den Genuß, die Perſpective, das
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Pennſylvania-Reiſe ſich die Umſtimmung bezeugte: „in dieſem Lande
nicht Muſter zu ſehen, ſondern Muſter zu geben. Dieſe Freien, hieß
es, müſſen durch uns Verknechtete ein wenig freier werden.“ Allmälig
aber langen wir an dem Punkte an, wo es ſich frägt, ob er auch
dazu noch Luſt und Kraft übrig behält.
Anhorſt iſt fort und Benthal noch nicht da. Ein ſchlimmer Um¬
ſtand in einer Lage, die durch ſich ſelbſt ſo wenig Anziehungskraft übt!
Daß aber dieſe beiden Geſchenke des Zufalls unſerm Helden ſo bald
zur Nothwendigkeit geworden, kann nicht gegen die Kraft und Selbſt¬
ſtändigkeit ſeines Charakters zeugen. Kein Menſch erträgt einen
neuen Gedanken, geht einen neuen Weg ohne das Princip der
Genoſſenſchaft. Ohne Remus kein Romulus, ohne Caſſius kein Brutus,
ſelbſt kein Columbus ohne die Pinzon's.
Was Anhorſt's Rückkehr betraf, ſo entzog ſie ſich einer ſtrikten
Wahrſcheinlichkeitsrechnung; einem Briefe Benthal's dagegen rechnete
Moorfeld ſeine Ankunft ſchon nach Stunden und Minuten zu. Zwar
währt ſein Aufenthalt in Ohio noch nicht ſo nennenswerth lange,
keinesfalls ſo lange, als es unter ſo vielen neuen Bildern und Ein¬
drücken, welche überdies faſt alle die Fähigkeit haben, ſich raſch wieder
auszuleben, den Schein gewinnen mag. Wir zählen kaum die achte
Woche der Anſiedlung Moorfeld's, und ging ſeine erſte Briefſendung
an Benthal von Pittsburg ein wenig früher ab, ſo datirt das Packet,
welches erſt ſeine Adreſſe enthielt, auch etwas ſpäter. Bedenken wir
dazu, daß wir von einer Zeit ſprechen, in welcher das Pennſylvaniſche
Eiſenbahnſyſtem zwar im Beginn, aber noch nicht am Ziele, und na¬
mentlich die großartige Alleghanny-Portage-Eiſenbahn Hudſon und
Ohio noch nicht mit Dampfeskraft verband, ſo wird in den Tagen,
welche wir gegenwärtig darſtellen, ein Brief von Benthal zwar ankom¬
men können, aber eben nur können. Moorfeld überſtürzte auch ſeine
Berechnung keineswegs. Aber genug, daß eine Berechnung nie zur
Beruhigung führt, vielmehr juſt an dem Punkte anfängt, wo auch die
Unruhe anfängt. Wie ein Menſch, der ſich ein ausnahmsweiſe frühes
Erwachen vornimmt, ſeinen Schlaf nicht etwa um dieſe Morgen¬
ſtunden kürzt, ſondern den ganzen Schlaf ſich verdirbt, weil die Seele
im Traume rechnet und überhaupt nichts anders träumt als das
Erwachen: ſo ſtört ſolch ein Rechnen den Genuß, die Perſpective, das
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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/386>, abgerufen am 24.11.2024.
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