ganze Leben des Tages, denn statt allem Gegenwärtigen setzt sich ein Abwesendes, statt allem Ersten ein Zweites, der ganze Vordergrund liegt in einem Schatten, aber die Ferne nicht im Lichte. Mit Ben¬ thal's Brief hat Moorfeld einen Genuß, eine Freude zu erwarten, aber die Erwartung selbst ist Qual, ist Sorge. Der trübe Horizont des Einsamen wird so um Vieles trüber. Mit jedem Sandkorn, das ver¬ rinnt, ohne die Erfüllung zu bringen, fühlt sich von Neuem die Frage berechtigt: Ist er krank? Sind es die Seinen? Ging dein Brief ver¬ loren? Ist seine Antwort verunglückt? und siehe! wie erschrak Moor¬ feld, als er bei letzterer Frage sich an den Postmeister erinnerte, der die deutsche Zeitungsnummer veruntreute! Wie, wenn Benthal den Einfall gehabt, deutsch zu adressiren, der Brief einem ähnlichen Native-Fanatiker zu ähnlichem Frevel in die Hand gerathen, und alles Hoffen für jetzt und für ewige Zeiten überhaupt vergebens? Also ein neues, geflügeltes Blättchen: englisch zu adressiren, und neues Ab¬ warten des Postengangs hin und zurück!
Es ist eine beängstigende Pause. Unser europäischer Freund, um¬ geben von seinen Fähigkeiten, Gemüthskräften, Strebnissen, Erwar¬ tungen und Entwürfen, macht uns in diesen Tagen den Eindruck einer vollen offenen Scene, welche ein plötzlicher Zwischenfall in Stockung versetzt. Mit reichem, breitem Wurf steht eine glänzende Gruppe mitten im gespanntesten Nerv der Handlung da, -- eine Feder fehlt, sie stockt. Schnell versendete Boten sind nach prompter Ergänzung aus -- wird sie gefunden? wird sie es nicht? Wird neues strömen¬ des Leben durch diese gebundene Organe rollen? oder fällt schrill und rasch der Vorhang über ein Fragment? Bis es sich entscheidet, führt uns der Held der Scene einstweilen ein anderes Bild vor. Er schau¬ kelt ein kleines blondes Mädchen und lauscht einer stammelnden Zunge auf Klagen um europäische Blumen!
Die "Flucht nach Aegypten" wie wir wissen ist Moorfeld's einzige Erhohlung in diesen Tagen. Eine gefährliche Erhohlung! Hier saugt er in milden, schmeichelnden Zügen die Melancholie in sich, die ihn zu Hause vielleicht unerträglich, aber eben darum zum Widerstand auffordernd, bestürmt. Flucht nach Aegypten! Mit welchem Gefühle für das schmerzlichste Ungenügen einer menschlichen Lage hat Moorfeld nur dieses Bild gewählt! Aber was bedürften wir den geheimen Zug
ganze Leben des Tages, denn ſtatt allem Gegenwärtigen ſetzt ſich ein Abweſendes, ſtatt allem Erſten ein Zweites, der ganze Vordergrund liegt in einem Schatten, aber die Ferne nicht im Lichte. Mit Ben¬ thal's Brief hat Moorfeld einen Genuß, eine Freude zu erwarten, aber die Erwartung ſelbſt iſt Qual, iſt Sorge. Der trübe Horizont des Einſamen wird ſo um Vieles trüber. Mit jedem Sandkorn, das ver¬ rinnt, ohne die Erfüllung zu bringen, fühlt ſich von Neuem die Frage berechtigt: Iſt er krank? Sind es die Seinen? Ging dein Brief ver¬ loren? Iſt ſeine Antwort verunglückt? und ſiehe! wie erſchrak Moor¬ feld, als er bei letzterer Frage ſich an den Poſtmeiſter erinnerte, der die deutſche Zeitungsnummer veruntreute! Wie, wenn Benthal den Einfall gehabt, deutſch zu adreſſiren, der Brief einem ähnlichen Native-Fanatiker zu ähnlichem Frevel in die Hand gerathen, und alles Hoffen für jetzt und für ewige Zeiten überhaupt vergebens? Alſo ein neues, geflügeltes Blättchen: engliſch zu adreſſiren, und neues Ab¬ warten des Poſtengangs hin und zurück!
Es iſt eine beängſtigende Pauſe. Unſer europäiſcher Freund, um¬ geben von ſeinen Fähigkeiten, Gemüthskräften, Strebniſſen, Erwar¬ tungen und Entwürfen, macht uns in dieſen Tagen den Eindruck einer vollen offenen Scene, welche ein plötzlicher Zwiſchenfall in Stockung verſetzt. Mit reichem, breitem Wurf ſteht eine glänzende Gruppe mitten im geſpannteſten Nerv der Handlung da, — eine Feder fehlt, ſie ſtockt. Schnell verſendete Boten ſind nach prompter Ergänzung aus — wird ſie gefunden? wird ſie es nicht? Wird neues ſtrömen¬ des Leben durch dieſe gebundene Organe rollen? oder fällt ſchrill und raſch der Vorhang über ein Fragment? Bis es ſich entſcheidet, führt uns der Held der Scene einſtweilen ein anderes Bild vor. Er ſchau¬ kelt ein kleines blondes Mädchen und lauſcht einer ſtammelnden Zunge auf Klagen um europäiſche Blumen!
Die „Flucht nach Aegypten“ wie wir wiſſen iſt Moorfeld's einzige Erhohlung in dieſen Tagen. Eine gefährliche Erhohlung! Hier ſaugt er in milden, ſchmeichelnden Zügen die Melancholie in ſich, die ihn zu Hauſe vielleicht unerträglich, aber eben darum zum Widerſtand auffordernd, beſtürmt. Flucht nach Aegypten! Mit welchem Gefühle für das ſchmerzlichſte Ungenügen einer menſchlichen Lage hat Moorfeld nur dieſes Bild gewählt! Aber was bedürften wir den geheimen Zug
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ganze Leben des Tages, denn ſtatt allem Gegenwärtigen ſetzt ſich ein
Abweſendes, ſtatt allem Erſten ein Zweites, der ganze Vordergrund
liegt in einem Schatten, aber die Ferne nicht im Lichte. Mit Ben¬
thal's Brief hat Moorfeld einen Genuß, eine Freude zu erwarten,
aber die Erwartung ſelbſt iſt Qual, iſt Sorge. Der trübe Horizont
des Einſamen wird ſo um Vieles trüber. Mit jedem Sandkorn, das ver¬
rinnt, ohne die Erfüllung zu bringen, fühlt ſich von Neuem die Frage
berechtigt: Iſt er krank? Sind es die Seinen? Ging dein Brief ver¬
loren? Iſt ſeine Antwort verunglückt? und ſiehe! wie erſchrak Moor¬
feld, als er bei letzterer Frage ſich an den Poſtmeiſter erinnerte, der
die deutſche Zeitungsnummer veruntreute! Wie, wenn Benthal den
Einfall gehabt, deutſch zu adreſſiren, der Brief einem ähnlichen
Native-Fanatiker zu ähnlichem Frevel in die Hand gerathen, und alles
Hoffen für jetzt und für ewige Zeiten überhaupt vergebens? Alſo
ein neues, geflügeltes Blättchen: engliſch zu adreſſiren, und neues Ab¬
warten des Poſtengangs hin und zurück!
Es iſt eine beängſtigende Pauſe. Unſer europäiſcher Freund, um¬
geben von ſeinen Fähigkeiten, Gemüthskräften, Strebniſſen, Erwar¬
tungen und Entwürfen, macht uns in dieſen Tagen den Eindruck einer
vollen offenen Scene, welche ein plötzlicher Zwiſchenfall in Stockung
verſetzt. Mit reichem, breitem Wurf ſteht eine glänzende Gruppe
mitten im geſpannteſten Nerv der Handlung da, — eine Feder fehlt,
ſie ſtockt. Schnell verſendete Boten ſind nach prompter Ergänzung
aus — wird ſie gefunden? wird ſie es nicht? Wird neues ſtrömen¬
des Leben durch dieſe gebundene Organe rollen? oder fällt ſchrill und
raſch der Vorhang über ein Fragment? Bis es ſich entſcheidet, führt
uns der Held der Scene einſtweilen ein anderes Bild vor. Er ſchau¬
kelt ein kleines blondes Mädchen und lauſcht einer ſtammelnden Zunge
auf Klagen um europäiſche Blumen!
Die „Flucht nach Aegypten“ wie wir wiſſen iſt Moorfeld's einzige
Erhohlung in dieſen Tagen. Eine gefährliche Erhohlung! Hier ſaugt
er in milden, ſchmeichelnden Zügen die Melancholie in ſich, die ihn
zu Hauſe vielleicht unerträglich, aber eben darum zum Widerſtand
auffordernd, beſtürmt. Flucht nach Aegypten! Mit welchem Gefühle
für das ſchmerzlichſte Ungenügen einer menſchlichen Lage hat Moorfeld
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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/387>, abgerufen am 24.11.2024.
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