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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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das Grauen seines Daseins, daß er nicht da war in der Welt die er
leitete. Er machte zittern, aber nicht wie ein europäischer Torquemada,
sondern wie ein Tölpel, der durch ein Kunstkabinet geht. Er wird
Unheil stiften aus platter blinder Flegelhaftigkeit. Er wird die Spiel¬
uhr anfassen, wie einen Mühlstein.

Wir gingen an unsere Feldmahlzeit. Ein eigenthümliches Mißbe¬
hagen drückte unsern kleinen Kreis. Den Waldraum durchwürzte das
traulichste Parfüm unter der Sonne -- Küchen- und Bratenduft:
auch ein Ueberfluß von lebendigen Gliedern war da, der dran herum¬
arbeitete. Aber das Alles wollte noch keine Versammlung werden.
Jedem Einzelnen fehlte das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Man
überblickte diesen Menschennumerus wie einen aufgelösten Rosenkranz,
ja, wie einen bloßgelegten Kirchhof, dessen innern Bestand eine Ueber¬
schwemmung aufdeckt. Das camp-meeting schien ein Haufe von
Schnecken, die dicht zusammenrücken, aber sie erwärmen sich doch nicht.
Das Ganze bleibt so kalt wie das Einzelne. Die Sonne zerfloß in
Erbarmen und gab sich alle Mühe einer äußern Erwärmung. Umsonst.
Wie mochte sie sich wundern! drüben in Neapel gelang ihrs so trefflich.
Fünf Menschen machen den Lärm eines Volkes dort. Hier Tausende
nicht. In welchen Verhältnissen leben Sonne und Erde auf ein und
demselben Breitegrad? Ist sie dort die Geliebte und hier die Ver¬
schmähte, die um so kälter macht, je heißer sie wird? Unglückliche,
wie tragisch bist du in deiner Unschuld! Du brennst herab, eine Ta¬
rantella zu zeitigen und zeitigst das Fieber. Da waren meine Ver¬
wesungsgedanken von gestern wieder! Wen soll man hier anklagen?
die Sonne, die Erde, die Menschen? Ich hätte in die Schöpfung
schreien mögen, wie König Lear: Mach mich nicht toll!! --

Viel Volks war in der stillen Betrachtung zurückgeblieben: ent¬
weder im ersten Drang seiner Andacht oder aus pfiffiger Concurrenz
um den Frömmigkeitsruf. Das nöthigte auch die Andern, schleuniger
nachzukommen, und ebenso trieb es den Prediger vorwärts. Kurz, ich
erlebte die Raserei, daß statt eines gesunden Mittagsschläfchens das
meeting in der ärgsten Hitze zusammenrannte und die Wagenburg
füllte. Da gab denn der Clerk das Zeichen, der Prediger stieg auf
die Kanzel und der Nachmittags-Gottesdienst fing schon am Mit¬
tage an.

das Grauen ſeines Daſeins, daß er nicht da war in der Welt die er
leitete. Er machte zittern, aber nicht wie ein europäiſcher Torquemada,
ſondern wie ein Tölpel, der durch ein Kunſtkabinet geht. Er wird
Unheil ſtiften aus platter blinder Flegelhaftigkeit. Er wird die Spiel¬
uhr anfaſſen, wie einen Mühlſtein.

Wir gingen an unſere Feldmahlzeit. Ein eigenthümliches Mißbe¬
hagen drückte unſern kleinen Kreis. Den Waldraum durchwürzte das
traulichſte Parfüm unter der Sonne — Küchen- und Bratenduft:
auch ein Ueberfluß von lebendigen Gliedern war da, der dran herum¬
arbeitete. Aber das Alles wollte noch keine Verſammlung werden.
Jedem Einzelnen fehlte das Gefühl der Zuſammengehörigkeit. Man
überblickte dieſen Menſchennumerus wie einen aufgelösten Roſenkranz,
ja, wie einen bloßgelegten Kirchhof, deſſen innern Beſtand eine Ueber¬
ſchwemmung aufdeckt. Das camp-meeting ſchien ein Haufe von
Schnecken, die dicht zuſammenrücken, aber ſie erwärmen ſich doch nicht.
Das Ganze bleibt ſo kalt wie das Einzelne. Die Sonne zerfloß in
Erbarmen und gab ſich alle Mühe einer äußern Erwärmung. Umſonſt.
Wie mochte ſie ſich wundern! drüben in Neapel gelang ihrs ſo trefflich.
Fünf Menſchen machen den Lärm eines Volkes dort. Hier Tauſende
nicht. In welchen Verhältniſſen leben Sonne und Erde auf ein und
demſelben Breitegrad? Iſt ſie dort die Geliebte und hier die Ver¬
ſchmähte, die um ſo kälter macht, je heißer ſie wird? Unglückliche,
wie tragiſch biſt du in deiner Unſchuld! Du brennſt herab, eine Ta¬
rantella zu zeitigen und zeitigſt das Fieber. Da waren meine Ver¬
weſungsgedanken von geſtern wieder! Wen ſoll man hier anklagen?
die Sonne, die Erde, die Menſchen? Ich hätte in die Schöpfung
ſchreien mögen, wie König Lear: Mach mich nicht toll!! —

Viel Volks war in der ſtillen Betrachtung zurückgeblieben: ent¬
weder im erſten Drang ſeiner Andacht oder aus pfiffiger Concurrenz
um den Frömmigkeitsruf. Das nöthigte auch die Andern, ſchleuniger
nachzukommen, und ebenſo trieb es den Prediger vorwärts. Kurz, ich
erlebte die Raſerei, daß ſtatt eines geſunden Mittagsſchläfchens das
meeting in der ärgſten Hitze zuſammenrannte und die Wagenburg
füllte. Da gab denn der Clerk das Zeichen, der Prediger ſtieg auf
die Kanzel und der Nachmittags-Gottesdienſt fing ſchon am Mit¬
tage an.

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[385/0403] das Grauen ſeines Daſeins, daß er nicht da war in der Welt die er leitete. Er machte zittern, aber nicht wie ein europäiſcher Torquemada, ſondern wie ein Tölpel, der durch ein Kunſtkabinet geht. Er wird Unheil ſtiften aus platter blinder Flegelhaftigkeit. Er wird die Spiel¬ uhr anfaſſen, wie einen Mühlſtein. Wir gingen an unſere Feldmahlzeit. Ein eigenthümliches Mißbe¬ hagen drückte unſern kleinen Kreis. Den Waldraum durchwürzte das traulichſte Parfüm unter der Sonne — Küchen- und Bratenduft: auch ein Ueberfluß von lebendigen Gliedern war da, der dran herum¬ arbeitete. Aber das Alles wollte noch keine Verſammlung werden. Jedem Einzelnen fehlte das Gefühl der Zuſammengehörigkeit. Man überblickte dieſen Menſchennumerus wie einen aufgelösten Roſenkranz, ja, wie einen bloßgelegten Kirchhof, deſſen innern Beſtand eine Ueber¬ ſchwemmung aufdeckt. Das camp-meeting ſchien ein Haufe von Schnecken, die dicht zuſammenrücken, aber ſie erwärmen ſich doch nicht. Das Ganze bleibt ſo kalt wie das Einzelne. Die Sonne zerfloß in Erbarmen und gab ſich alle Mühe einer äußern Erwärmung. Umſonſt. Wie mochte ſie ſich wundern! drüben in Neapel gelang ihrs ſo trefflich. Fünf Menſchen machen den Lärm eines Volkes dort. Hier Tauſende nicht. In welchen Verhältniſſen leben Sonne und Erde auf ein und demſelben Breitegrad? Iſt ſie dort die Geliebte und hier die Ver¬ ſchmähte, die um ſo kälter macht, je heißer ſie wird? Unglückliche, wie tragiſch biſt du in deiner Unſchuld! Du brennſt herab, eine Ta¬ rantella zu zeitigen und zeitigſt das Fieber. Da waren meine Ver¬ weſungsgedanken von geſtern wieder! Wen ſoll man hier anklagen? die Sonne, die Erde, die Menſchen? Ich hätte in die Schöpfung ſchreien mögen, wie König Lear: Mach mich nicht toll!! — Viel Volks war in der ſtillen Betrachtung zurückgeblieben: ent¬ weder im erſten Drang ſeiner Andacht oder aus pfiffiger Concurrenz um den Frömmigkeitsruf. Das nöthigte auch die Andern, ſchleuniger nachzukommen, und ebenſo trieb es den Prediger vorwärts. Kurz, ich erlebte die Raſerei, daß ſtatt eines geſunden Mittagsſchläfchens das meeting in der ärgſten Hitze zuſammenrannte und die Wagenburg füllte. Da gab denn der Clerk das Zeichen, der Prediger ſtieg auf die Kanzel und der Nachmittags-Gottesdienſt fing ſchon am Mit¬ tage an.

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/403>, abgerufen am 24.11.2024.