Kürnberger, Ferdinand: Der Drache. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [263]–310. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.endlosen Erscheinungen von "Blutandrang", -- "Blutstockungen", -- die täuschenden Klagen über "Unverdaulichkeit" u. dgl. In dieser Beziehung galt's einen höchst einfachen Heilplan. Geregelte Diät und einige Wochen Franzensbad konnte der Arzt fast ungesehen verordnen. Aber diesen geraden Weg verbot ihm alle Erfahrung. Der Hypochonder läßt nie eine Anklage seiner Lebensweise zu, er glaubt den unschuldigsten Genuß zu missen, wenn er den verderblichsten aufgeben soll, er entzieht dem Arzte alles Vertrauen, der solche Opfer unverhüllt von ihm fordert. Der kluge Arzt verhüllt sie daher. Er giebt der Krankheit einen abenteuerlichen Namen, einen, der die Phantasie besticht, der dem Hange zum Ungewöhnlichen schmeichelt; erst so wird die willige Hingebung gewonnen. Ein kleiner Betrug ist hier ein großes Verdienst. Er giebt der Krankheit einen abenteuerlichen Namen. Aber hat sie ihn vielleicht nicht schon in diesem Falle? Das war es, was der Doctor nicht minder schwer hier erwog. Das Landvolk sprach kurzweg von einem Matzchen. So ruchlos dieser abergläubische Leumund in das Leben des armen Kranken eingriff, so galt's doch, den Kern davon aufzufinden, denn sicherlich war ein solcher Kern da. Alles überzeugte den Doctor, daß von leiblichen Störungen nicht allein hier die Rede sei. Er stand wieder auf der nämlichen Stelle, wie vor zwei Jahren, als verirrter Wanderer. Bilder und Stimmungen jenes Abends lebten mit neuer Macht in ihm auf. Wie der langvermißte Hausvater in einem schwülen, beklommenen Augenblicke plötzlich zu dieser Thür hereintritt, auf diese Bank niedersitzt, ein großes Glück mit nach Hause bringt und verhältnißmäßig wenig Freude darüber zeigt, ja, fast wie ein Mann des Unglückes dabei aussieht: -- gewiß, an jene räthselhafte Stunde führen die Spuren zurück, die der Arzt hier verfolgen muß. Hier schwebt ein Ge- endlosen Erscheinungen von „Blutandrang“, — „Blutstockungen“, — die täuschenden Klagen über „Unverdaulichkeit“ u. dgl. In dieser Beziehung galt's einen höchst einfachen Heilplan. Geregelte Diät und einige Wochen Franzensbad konnte der Arzt fast ungesehen verordnen. Aber diesen geraden Weg verbot ihm alle Erfahrung. Der Hypochonder läßt nie eine Anklage seiner Lebensweise zu, er glaubt den unschuldigsten Genuß zu missen, wenn er den verderblichsten aufgeben soll, er entzieht dem Arzte alles Vertrauen, der solche Opfer unverhüllt von ihm fordert. Der kluge Arzt verhüllt sie daher. Er giebt der Krankheit einen abenteuerlichen Namen, einen, der die Phantasie besticht, der dem Hange zum Ungewöhnlichen schmeichelt; erst so wird die willige Hingebung gewonnen. Ein kleiner Betrug ist hier ein großes Verdienst. Er giebt der Krankheit einen abenteuerlichen Namen. Aber hat sie ihn vielleicht nicht schon in diesem Falle? Das war es, was der Doctor nicht minder schwer hier erwog. Das Landvolk sprach kurzweg von einem Matzchen. So ruchlos dieser abergläubische Leumund in das Leben des armen Kranken eingriff, so galt's doch, den Kern davon aufzufinden, denn sicherlich war ein solcher Kern da. Alles überzeugte den Doctor, daß von leiblichen Störungen nicht allein hier die Rede sei. Er stand wieder auf der nämlichen Stelle, wie vor zwei Jahren, als verirrter Wanderer. Bilder und Stimmungen jenes Abends lebten mit neuer Macht in ihm auf. Wie der langvermißte Hausvater in einem schwülen, beklommenen Augenblicke plötzlich zu dieser Thür hereintritt, auf diese Bank niedersitzt, ein großes Glück mit nach Hause bringt und verhältnißmäßig wenig Freude darüber zeigt, ja, fast wie ein Mann des Unglückes dabei aussieht: — gewiß, an jene räthselhafte Stunde führen die Spuren zurück, die der Arzt hier verfolgen muß. Hier schwebt ein Ge- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="3"> <p><pb facs="#f0034"/> endlosen Erscheinungen von „Blutandrang“, — „Blutstockungen“, — die täuschenden Klagen über „Unverdaulichkeit“ u. dgl. In dieser Beziehung galt's einen höchst einfachen Heilplan. Geregelte Diät und einige Wochen Franzensbad konnte der Arzt fast ungesehen verordnen. Aber diesen geraden Weg verbot ihm alle Erfahrung. Der Hypochonder läßt nie eine Anklage seiner Lebensweise zu, er glaubt den unschuldigsten Genuß zu missen, wenn er den verderblichsten aufgeben soll, er entzieht dem Arzte alles Vertrauen, der solche Opfer unverhüllt von ihm fordert. Der kluge Arzt verhüllt sie daher. Er giebt der Krankheit einen abenteuerlichen Namen, einen, der die Phantasie besticht, der dem Hange zum Ungewöhnlichen schmeichelt; erst so wird die willige Hingebung gewonnen. Ein kleiner Betrug ist hier ein großes Verdienst.</p><lb/> <p>Er giebt der Krankheit einen abenteuerlichen Namen. Aber hat sie ihn vielleicht nicht schon in diesem Falle? Das war es, was der Doctor nicht minder schwer hier erwog. Das Landvolk sprach kurzweg von einem Matzchen. So ruchlos dieser abergläubische Leumund in das Leben des armen Kranken eingriff, so galt's doch, den Kern davon aufzufinden, denn sicherlich war ein solcher Kern da. Alles überzeugte den Doctor, daß von leiblichen Störungen nicht allein hier die Rede sei. Er stand wieder auf der nämlichen Stelle, wie vor zwei Jahren, als verirrter Wanderer. Bilder und Stimmungen jenes Abends lebten mit neuer Macht in ihm auf. Wie der langvermißte Hausvater in einem schwülen, beklommenen Augenblicke plötzlich zu dieser Thür hereintritt, auf diese Bank niedersitzt, ein großes Glück mit nach Hause bringt und verhältnißmäßig wenig Freude darüber zeigt, ja, fast wie ein Mann des Unglückes dabei aussieht: — gewiß, an jene räthselhafte Stunde führen die Spuren zurück, die der Arzt hier verfolgen muß. Hier schwebt ein Ge-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0034]
endlosen Erscheinungen von „Blutandrang“, — „Blutstockungen“, — die täuschenden Klagen über „Unverdaulichkeit“ u. dgl. In dieser Beziehung galt's einen höchst einfachen Heilplan. Geregelte Diät und einige Wochen Franzensbad konnte der Arzt fast ungesehen verordnen. Aber diesen geraden Weg verbot ihm alle Erfahrung. Der Hypochonder läßt nie eine Anklage seiner Lebensweise zu, er glaubt den unschuldigsten Genuß zu missen, wenn er den verderblichsten aufgeben soll, er entzieht dem Arzte alles Vertrauen, der solche Opfer unverhüllt von ihm fordert. Der kluge Arzt verhüllt sie daher. Er giebt der Krankheit einen abenteuerlichen Namen, einen, der die Phantasie besticht, der dem Hange zum Ungewöhnlichen schmeichelt; erst so wird die willige Hingebung gewonnen. Ein kleiner Betrug ist hier ein großes Verdienst.
Er giebt der Krankheit einen abenteuerlichen Namen. Aber hat sie ihn vielleicht nicht schon in diesem Falle? Das war es, was der Doctor nicht minder schwer hier erwog. Das Landvolk sprach kurzweg von einem Matzchen. So ruchlos dieser abergläubische Leumund in das Leben des armen Kranken eingriff, so galt's doch, den Kern davon aufzufinden, denn sicherlich war ein solcher Kern da. Alles überzeugte den Doctor, daß von leiblichen Störungen nicht allein hier die Rede sei. Er stand wieder auf der nämlichen Stelle, wie vor zwei Jahren, als verirrter Wanderer. Bilder und Stimmungen jenes Abends lebten mit neuer Macht in ihm auf. Wie der langvermißte Hausvater in einem schwülen, beklommenen Augenblicke plötzlich zu dieser Thür hereintritt, auf diese Bank niedersitzt, ein großes Glück mit nach Hause bringt und verhältnißmäßig wenig Freude darüber zeigt, ja, fast wie ein Mann des Unglückes dabei aussieht: — gewiß, an jene räthselhafte Stunde führen die Spuren zurück, die der Arzt hier verfolgen muß. Hier schwebt ein Ge-
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Zitationshilfe: | Kürnberger, Ferdinand: Der Drache. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [263]–310. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_drache_1910/34>, abgerufen am 16.07.2024. |