Kürnberger, Ferdinand: Der Drache. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [263]–310. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.heimniß -- ein unsträfliches vielleicht, denn allen Erkundigungen nach scheint das Gewissen des Kranken nicht beschwert, aber seine Seele ist es zweifellos, und mit der Seele der Leib. Des Doctors Absicht stand also fest: ein Geständniß zu gewinnen über das, was zu dem Leiden des Leidenden den wahren Schlüssel hier ahnen ließ. Mit diesem Entschlusse trat er in das Zimmer seines Patienten. Ein Mädchen führte ihn dahin, dessen derbe, vollblühende Schönheit in keinem Zuge mehr das Bild jener schmächtigen Kindlichkeit verrieth, das ihn vor zwei Jahren hier empfangen. Aber im umgekehrten Verhältnisse hatte der Bauer Raithmeyer sich verändert. Der Doctor stand vor einer erdfahlen, abgezehrten Krankengestalt, deren Anblick tiefes Mitleid erregt hätte, wenn er nicht eben so feindlich und zurückschreckend war. Die strengen Stirnfalten, die zuckenden Augenbrauen, der wilde, hassende Blick -- Alles verrieth eine Seele, die mit sich und der Welt im unglücklichsten Zerfalle war. Barsch fuhr der Hypochondrist den Eintretenden an: He, bringt Ihr denn auch den Todtengräber mit? -- Der Doctor kannte die Art, solche ländliche Derbheit einzuschüchtern; er antwortete kaltblütig: Wie ich sehe, läßt sich weder scherzen noch spotten. Schlimm genug sehen Sie aus. Sie haben das hippokratische Gesicht. -- Der Bauer bebte zurück, man sah, der Keil saß gut in dem Knorren. Das hippokratische Gesicht! Dieser unverstandene Ausdruck, dieser bedeutungsvolle Klang hätte allein schon den Trotz des Trotzigen zermalmt. Der Doctor sah zufrieden die Wirkung seiner Festigkeit. Er nahm jetzt den Plessimeter heraus und sagte mit eben so wenig Umständen: Lassen Sie mich hören, wo und wie er anklopft. Der Bauer folgte wie ein Kind. Der Doctor auscultirte zum Scheine, dann sagte er mit unwiderstehlichem Ernste: Sie haben den Herzpolyp, armer heimniß — ein unsträfliches vielleicht, denn allen Erkundigungen nach scheint das Gewissen des Kranken nicht beschwert, aber seine Seele ist es zweifellos, und mit der Seele der Leib. Des Doctors Absicht stand also fest: ein Geständniß zu gewinnen über das, was zu dem Leiden des Leidenden den wahren Schlüssel hier ahnen ließ. Mit diesem Entschlusse trat er in das Zimmer seines Patienten. Ein Mädchen führte ihn dahin, dessen derbe, vollblühende Schönheit in keinem Zuge mehr das Bild jener schmächtigen Kindlichkeit verrieth, das ihn vor zwei Jahren hier empfangen. Aber im umgekehrten Verhältnisse hatte der Bauer Raithmeyer sich verändert. Der Doctor stand vor einer erdfahlen, abgezehrten Krankengestalt, deren Anblick tiefes Mitleid erregt hätte, wenn er nicht eben so feindlich und zurückschreckend war. Die strengen Stirnfalten, die zuckenden Augenbrauen, der wilde, hassende Blick — Alles verrieth eine Seele, die mit sich und der Welt im unglücklichsten Zerfalle war. Barsch fuhr der Hypochondrist den Eintretenden an: He, bringt Ihr denn auch den Todtengräber mit? — Der Doctor kannte die Art, solche ländliche Derbheit einzuschüchtern; er antwortete kaltblütig: Wie ich sehe, läßt sich weder scherzen noch spotten. Schlimm genug sehen Sie aus. Sie haben das hippokratische Gesicht. — Der Bauer bebte zurück, man sah, der Keil saß gut in dem Knorren. Das hippokratische Gesicht! Dieser unverstandene Ausdruck, dieser bedeutungsvolle Klang hätte allein schon den Trotz des Trotzigen zermalmt. Der Doctor sah zufrieden die Wirkung seiner Festigkeit. Er nahm jetzt den Plessimeter heraus und sagte mit eben so wenig Umständen: Lassen Sie mich hören, wo und wie er anklopft. Der Bauer folgte wie ein Kind. Der Doctor auscultirte zum Scheine, dann sagte er mit unwiderstehlichem Ernste: Sie haben den Herzpolyp, armer <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="3"> <p><pb facs="#f0035"/> heimniß — ein unsträfliches vielleicht, denn allen Erkundigungen nach scheint das Gewissen des Kranken nicht beschwert, aber seine Seele ist es zweifellos, und mit der Seele der Leib. Des Doctors Absicht stand also fest: ein Geständniß zu gewinnen über das, was zu dem Leiden des Leidenden den wahren Schlüssel hier ahnen ließ.</p><lb/> <p>Mit diesem Entschlusse trat er in das Zimmer seines Patienten. Ein Mädchen führte ihn dahin, dessen derbe, vollblühende Schönheit in keinem Zuge mehr das Bild jener schmächtigen Kindlichkeit verrieth, das ihn vor zwei Jahren hier empfangen. Aber im umgekehrten Verhältnisse hatte der Bauer Raithmeyer sich verändert. Der Doctor stand vor einer erdfahlen, abgezehrten Krankengestalt, deren Anblick tiefes Mitleid erregt hätte, wenn er nicht eben so feindlich und zurückschreckend war. Die strengen Stirnfalten, die zuckenden Augenbrauen, der wilde, hassende Blick — Alles verrieth eine Seele, die mit sich und der Welt im unglücklichsten Zerfalle war. Barsch fuhr der Hypochondrist den Eintretenden an: He, bringt Ihr denn auch den Todtengräber mit? — Der Doctor kannte die Art, solche ländliche Derbheit einzuschüchtern; er antwortete kaltblütig: Wie ich sehe, läßt sich weder scherzen noch spotten. Schlimm genug sehen Sie aus. Sie haben das hippokratische Gesicht. — Der Bauer bebte zurück, man sah, der Keil saß gut in dem Knorren. Das hippokratische Gesicht! Dieser unverstandene Ausdruck, dieser bedeutungsvolle Klang hätte allein schon den Trotz des Trotzigen zermalmt. Der Doctor sah zufrieden die Wirkung seiner Festigkeit. Er nahm jetzt den Plessimeter heraus und sagte mit eben so wenig Umständen: Lassen Sie mich hören, wo und wie er anklopft. Der Bauer folgte wie ein Kind. Der Doctor auscultirte zum Scheine, dann sagte er mit unwiderstehlichem Ernste: Sie haben den Herzpolyp, armer<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0035]
heimniß — ein unsträfliches vielleicht, denn allen Erkundigungen nach scheint das Gewissen des Kranken nicht beschwert, aber seine Seele ist es zweifellos, und mit der Seele der Leib. Des Doctors Absicht stand also fest: ein Geständniß zu gewinnen über das, was zu dem Leiden des Leidenden den wahren Schlüssel hier ahnen ließ.
Mit diesem Entschlusse trat er in das Zimmer seines Patienten. Ein Mädchen führte ihn dahin, dessen derbe, vollblühende Schönheit in keinem Zuge mehr das Bild jener schmächtigen Kindlichkeit verrieth, das ihn vor zwei Jahren hier empfangen. Aber im umgekehrten Verhältnisse hatte der Bauer Raithmeyer sich verändert. Der Doctor stand vor einer erdfahlen, abgezehrten Krankengestalt, deren Anblick tiefes Mitleid erregt hätte, wenn er nicht eben so feindlich und zurückschreckend war. Die strengen Stirnfalten, die zuckenden Augenbrauen, der wilde, hassende Blick — Alles verrieth eine Seele, die mit sich und der Welt im unglücklichsten Zerfalle war. Barsch fuhr der Hypochondrist den Eintretenden an: He, bringt Ihr denn auch den Todtengräber mit? — Der Doctor kannte die Art, solche ländliche Derbheit einzuschüchtern; er antwortete kaltblütig: Wie ich sehe, läßt sich weder scherzen noch spotten. Schlimm genug sehen Sie aus. Sie haben das hippokratische Gesicht. — Der Bauer bebte zurück, man sah, der Keil saß gut in dem Knorren. Das hippokratische Gesicht! Dieser unverstandene Ausdruck, dieser bedeutungsvolle Klang hätte allein schon den Trotz des Trotzigen zermalmt. Der Doctor sah zufrieden die Wirkung seiner Festigkeit. Er nahm jetzt den Plessimeter heraus und sagte mit eben so wenig Umständen: Lassen Sie mich hören, wo und wie er anklopft. Der Bauer folgte wie ein Kind. Der Doctor auscultirte zum Scheine, dann sagte er mit unwiderstehlichem Ernste: Sie haben den Herzpolyp, armer
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-15T13:57:16Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-15T13:57:16Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |