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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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zuvor einem Strahl der Wahrheit und Demuth Raum gegeben hatte,
von neuem die mörderische Wuth, zu welcher sich nun ein unbestimm¬
ter Trieb, bevorstehenden Uebeln zu entgehen, gesellte. Er flog die
obere Treppe hinauf auf den Boden, wo er sich rücklings auf einen
Kasten legte, sein Messer in eine daneben stehende Bettlade steckte, und
in dieser Verfassung die Verfolger erwartete. Er muß auf der Bühne
sein! rief's unten und die Schaar drang herauf. Die Vordersten
waren der Amtsknecht, der Fleckenschütz und der Fischer; hinter ihnen
drängte es sich auf der Treppe Kopf an Kopf. Komm mir keiner zu
nah! rief der tolle Bursche und griff nach dem Messer. Sie stutzten
und wichen zurück. Holet ein Gewehr! rief einer. Da ist schon eins!
antwortete es vom Fuß der Treppe. Her da! rief's oben: man muß
nach ihm schießen, bis ihm der Krattel vergeht! Er fuhr von seinem
Lager auf, ließ das Messer stecken und stürzte nach einem Dachladen,
durch den er alsbald verschwand. Ein Geschrei von unten erscholl.
Er hat sich hinuntergestürzt! schrie der Amtsknecht. Die Einen war¬
fen sich auf das Messer, um sich desselben zu bemächtigen, die Andern
rannten nach dem Dachladen. Der Fischer war der Erste, der daselbst
ankam und den Kopf hinausstreckte. Er zog ihn aber alsbald zurück
und rief: Nein, er schiebt sich das Dach hinauf und hat mich mit ei¬
nem Ziegel auf den Kopf schlagen wollen. Das Dach aufgehoben!
schrieen Einige und machten Anstalt am Sparrenwerk hinaufzuklettern;
da flog durch eine Lücke ein Ziegel herein, der zwar Keinen traf, aber
Alle von dem vorgeschlagenen Unternehmen abschreckte. Fluchend und
schreiend verließen sie den obern Boden und gingen auf die Straße
hinunter, von wo sie nun sehen konnten, wie des Sonnenwirths Frieder,
dem ganzen Flecken zum Schauspiel, auf dem Dachfirst seines väterlichen
Hauses ritt. Es war lächerlich und jämmerlich zugleich anzuschauen,
obgleich er sich fest wie im Sattel eines Pferdes hielt, seine Verfolger
höhnte und heraufzukommen einlud. Der ganze Platz um das Haus
war voll Menschen, und aus den anstoßenden Gassen drängten sich
immer neue Zuschauer herbei. Was gibt's? was gibt's? riefen die
Einen; -- 's ist e' Kuh fliegig worden! -- nein, e' Stier! schrieen
Andere. -- Dem Sonnenwirth sitzt ein fremder Vogel auf'm Haus! --
Schießet ihn vom Dach abe! -- Holet ihn mit der Feuerspritz' 'runter! --
so ging das Geschrei und Gelächter durch einander. Ein Wagen, der

zuvor einem Strahl der Wahrheit und Demuth Raum gegeben hatte,
von neuem die mörderiſche Wuth, zu welcher ſich nun ein unbeſtimm¬
ter Trieb, bevorſtehenden Uebeln zu entgehen, geſellte. Er flog die
obere Treppe hinauf auf den Boden, wo er ſich rücklings auf einen
Kaſten legte, ſein Meſſer in eine daneben ſtehende Bettlade ſteckte, und
in dieſer Verfaſſung die Verfolger erwartete. Er muß auf der Bühne
ſein! rief's unten und die Schaar drang herauf. Die Vorderſten
waren der Amtsknecht, der Fleckenſchütz und der Fiſcher; hinter ihnen
drängte es ſich auf der Treppe Kopf an Kopf. Komm mir keiner zu
nah! rief der tolle Burſche und griff nach dem Meſſer. Sie ſtutzten
und wichen zurück. Holet ein Gewehr! rief einer. Da iſt ſchon eins!
antwortete es vom Fuß der Treppe. Her da! rief's oben: man muß
nach ihm ſchießen, bis ihm der Krattel vergeht! Er fuhr von ſeinem
Lager auf, ließ das Meſſer ſtecken und ſtürzte nach einem Dachladen,
durch den er alsbald verſchwand. Ein Geſchrei von unten erſcholl.
Er hat ſich hinuntergeſtürzt! ſchrie der Amtsknecht. Die Einen war¬
fen ſich auf das Meſſer, um ſich deſſelben zu bemächtigen, die Andern
rannten nach dem Dachladen. Der Fiſcher war der Erſte, der daſelbſt
ankam und den Kopf hinausſtreckte. Er zog ihn aber alsbald zurück
und rief: Nein, er ſchiebt ſich das Dach hinauf und hat mich mit ei¬
nem Ziegel auf den Kopf ſchlagen wollen. Das Dach aufgehoben!
ſchrieen Einige und machten Anſtalt am Sparrenwerk hinaufzuklettern;
da flog durch eine Lücke ein Ziegel herein, der zwar Keinen traf, aber
Alle von dem vorgeſchlagenen Unternehmen abſchreckte. Fluchend und
ſchreiend verließen ſie den obern Boden und gingen auf die Straße
hinunter, von wo ſie nun ſehen konnten, wie des Sonnenwirths Frieder,
dem ganzen Flecken zum Schauſpiel, auf dem Dachfirſt ſeines väterlichen
Hauſes ritt. Es war lächerlich und jämmerlich zugleich anzuſchauen,
obgleich er ſich feſt wie im Sattel eines Pferdes hielt, ſeine Verfolger
höhnte und heraufzukommen einlud. Der ganze Platz um das Haus
war voll Menſchen, und aus den anſtoßenden Gaſſen drängten ſich
immer neue Zuſchauer herbei. Was gibt's? was gibt's? riefen die
Einen; — 's iſt e' Kuh fliegig worden! — nein, e' Stier! ſchrieen
Andere. — Dem Sonnenwirth ſitzt ein fremder Vogel auf'm Haus! —
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[260/0276] zuvor einem Strahl der Wahrheit und Demuth Raum gegeben hatte, von neuem die mörderiſche Wuth, zu welcher ſich nun ein unbeſtimm¬ ter Trieb, bevorſtehenden Uebeln zu entgehen, geſellte. Er flog die obere Treppe hinauf auf den Boden, wo er ſich rücklings auf einen Kaſten legte, ſein Meſſer in eine daneben ſtehende Bettlade ſteckte, und in dieſer Verfaſſung die Verfolger erwartete. Er muß auf der Bühne ſein! rief's unten und die Schaar drang herauf. Die Vorderſten waren der Amtsknecht, der Fleckenſchütz und der Fiſcher; hinter ihnen drängte es ſich auf der Treppe Kopf an Kopf. Komm mir keiner zu nah! rief der tolle Burſche und griff nach dem Meſſer. Sie ſtutzten und wichen zurück. Holet ein Gewehr! rief einer. Da iſt ſchon eins! antwortete es vom Fuß der Treppe. Her da! rief's oben: man muß nach ihm ſchießen, bis ihm der Krattel vergeht! Er fuhr von ſeinem Lager auf, ließ das Meſſer ſtecken und ſtürzte nach einem Dachladen, durch den er alsbald verſchwand. Ein Geſchrei von unten erſcholl. Er hat ſich hinuntergeſtürzt! ſchrie der Amtsknecht. Die Einen war¬ fen ſich auf das Meſſer, um ſich deſſelben zu bemächtigen, die Andern rannten nach dem Dachladen. Der Fiſcher war der Erſte, der daſelbſt ankam und den Kopf hinausſtreckte. Er zog ihn aber alsbald zurück und rief: Nein, er ſchiebt ſich das Dach hinauf und hat mich mit ei¬ nem Ziegel auf den Kopf ſchlagen wollen. Das Dach aufgehoben! ſchrieen Einige und machten Anſtalt am Sparrenwerk hinaufzuklettern; da flog durch eine Lücke ein Ziegel herein, der zwar Keinen traf, aber Alle von dem vorgeſchlagenen Unternehmen abſchreckte. Fluchend und ſchreiend verließen ſie den obern Boden und gingen auf die Straße hinunter, von wo ſie nun ſehen konnten, wie des Sonnenwirths Frieder, dem ganzen Flecken zum Schauſpiel, auf dem Dachfirſt ſeines väterlichen Hauſes ritt. Es war lächerlich und jämmerlich zugleich anzuſchauen, obgleich er ſich feſt wie im Sattel eines Pferdes hielt, ſeine Verfolger höhnte und heraufzukommen einlud. Der ganze Platz um das Haus war voll Menſchen, und aus den anſtoßenden Gaſſen drängten ſich immer neue Zuſchauer herbei. Was gibt's? was gibt's? riefen die Einen; — 's iſt e' Kuh fliegig worden! — nein, e' Stier! ſchrieen Andere. — Dem Sonnenwirth ſitzt ein fremder Vogel auf'm Haus! — Schießet ihn vom Dach abe! — Holet ihn mit der Feuerſpritz' 'runter! — ſo ging das Geſchrei und Gelächter durch einander. Ein Wagen, der

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/276>, abgerufen am 22.11.2024.