samen Kraft arbeitete er sich durch die Gebirgswälder hindurch, und das Gestrüpp krachte unter seinen Händen und Füßen, bis er endlich, halb erschöpft, abgelegene Pfade einzuschlagen wagte, die ihn in weiten Krümmungen seinem Ziele näher führten.
Der Tag hatte sich tief geneigt, als er auf diesen verborgenen Umwegen, todtmüde vor Hunger und Anstrengung, auf einer vor¬ springenden Höhe herauskam und unter sich in der Breite des Thals die Stadt liegen sah, von wo aus er so oft in die Gefangen¬ schaft gesendet worden war, und wo nun auch Christine abermals ihr Schicksal erwarten sollte. Ihr freundlicher Anblick stimmte schlecht zu der Unglücksbedeutung, die sie für ihn und die Genossin seines irren Lebens angenommen hatte. Seine Blicke, von Erschöpfung verschleiert, schweiften unstät in die dämmernde Landschaft hinaus. Plötzlich tau¬ melte er zurück, von einem Schreck ergriffen, der ihm das Blut in den Adern stocken machte. Was war es, das ihm vor die Augen ge¬ treten war? Es sah aus wie der Schatten eines aufgehobenen Riesen¬ fingers. Mit einer wilden Aufraffung kämpfte er den Schrecken nie¬ der, rieb sich die Augen aus und sagte laut und zornig, während ihm doch die Stimme bebte, vor sich hin: Dummes Zeug, es ist ja nichts als der Staufen.
Der wunderschlanke Berg war ihm einen Augenblick zum Schreckgespenst geworden. Auch mit ihm glaubte er in seinem anklägerischen Wahne rechten zu dürfen. Was willst du mich warnen? fragte er; bin ich denn auf bösen Wegen? Ich will ja nur bei meinem Weib und mei¬ nen Kindern sein!
Er lachte verächtlich. Ist just die rechte Zeit zum Gespenstersehen, sagte er. Gespenster hätten jetzt gute Gelegenheit, mir Gesellschaft zu leisten. Nur herzu, wenn's beliebt.
Er warf sich zu Boden und rang mit der Empörung seiner Pulse und seiner Gedanken, bis endlich ein später Schlaf sich des gehetzten Wildes erbarmte.
ſamen Kraft arbeitete er ſich durch die Gebirgswälder hindurch, und das Geſtrüpp krachte unter ſeinen Händen und Füßen, bis er endlich, halb erſchöpft, abgelegene Pfade einzuſchlagen wagte, die ihn in weiten Krümmungen ſeinem Ziele näher führten.
Der Tag hatte ſich tief geneigt, als er auf dieſen verborgenen Umwegen, todtmüde vor Hunger und Anſtrengung, auf einer vor¬ ſpringenden Höhe herauskam und unter ſich in der Breite des Thals die Stadt liegen ſah, von wo aus er ſo oft in die Gefangen¬ ſchaft geſendet worden war, und wo nun auch Chriſtine abermals ihr Schickſal erwarten ſollte. Ihr freundlicher Anblick ſtimmte ſchlecht zu der Unglücksbedeutung, die ſie für ihn und die Genoſſin ſeines irren Lebens angenommen hatte. Seine Blicke, von Erſchöpfung verſchleiert, ſchweiften unſtät in die dämmernde Landſchaft hinaus. Plötzlich tau¬ melte er zurück, von einem Schreck ergriffen, der ihm das Blut in den Adern ſtocken machte. Was war es, das ihm vor die Augen ge¬ treten war? Es ſah aus wie der Schatten eines aufgehobenen Rieſen¬ fingers. Mit einer wilden Aufraffung kämpfte er den Schrecken nie¬ der, rieb ſich die Augen aus und ſagte laut und zornig, während ihm doch die Stimme bebte, vor ſich hin: Dummes Zeug, es iſt ja nichts als der Staufen.
Der wunderſchlanke Berg war ihm einen Augenblick zum Schreckgeſpenſt geworden. Auch mit ihm glaubte er in ſeinem anklägeriſchen Wahne rechten zu dürfen. Was willſt du mich warnen? fragte er; bin ich denn auf böſen Wegen? Ich will ja nur bei meinem Weib und mei¬ nen Kindern ſein!
Er lachte verächtlich. Iſt juſt die rechte Zeit zum Geſpenſterſehen, ſagte er. Geſpenſter hätten jetzt gute Gelegenheit, mir Geſellſchaft zu leiſten. Nur herzu, wenn's beliebt.
Er warf ſich zu Boden und rang mit der Empörung ſeiner Pulſe und ſeiner Gedanken, bis endlich ein ſpäter Schlaf ſich des gehetzten Wildes erbarmte.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0336"n="320"/>ſamen Kraft arbeitete er ſich durch die Gebirgswälder hindurch,<lb/>
und das Geſtrüpp krachte unter ſeinen Händen und Füßen, bis er<lb/>
endlich, halb erſchöpft, abgelegene Pfade einzuſchlagen wagte, die ihn<lb/>
in weiten Krümmungen ſeinem Ziele näher führten.</p><lb/><p>Der Tag hatte ſich tief geneigt, als er auf dieſen verborgenen<lb/>
Umwegen, todtmüde vor Hunger und Anſtrengung, auf einer vor¬<lb/>ſpringenden Höhe herauskam und unter ſich in der Breite des<lb/>
Thals die Stadt liegen ſah, von wo aus er ſo oft in die Gefangen¬<lb/>ſchaft geſendet worden war, und wo nun auch Chriſtine abermals ihr<lb/>
Schickſal erwarten ſollte. Ihr freundlicher Anblick ſtimmte ſchlecht zu<lb/>
der Unglücksbedeutung, die ſie für ihn und die Genoſſin ſeines irren<lb/>
Lebens angenommen hatte. Seine Blicke, von Erſchöpfung verſchleiert,<lb/>ſchweiften unſtät in die dämmernde Landſchaft hinaus. Plötzlich tau¬<lb/>
melte er zurück, von einem Schreck ergriffen, der ihm das Blut in<lb/>
den Adern ſtocken machte. Was war es, das ihm vor die Augen ge¬<lb/>
treten war? Es ſah aus wie der Schatten eines aufgehobenen Rieſen¬<lb/>
fingers. Mit einer wilden Aufraffung kämpfte er den Schrecken nie¬<lb/>
der, rieb ſich die Augen aus und ſagte laut und zornig, während ihm<lb/>
doch die Stimme bebte, vor ſich hin: Dummes Zeug, es iſt ja nichts<lb/>
als der Staufen.</p><lb/><p>Der wunderſchlanke Berg war ihm einen Augenblick zum Schreckgeſpenſt<lb/>
geworden. Auch mit ihm glaubte er in ſeinem anklägeriſchen Wahne<lb/>
rechten zu dürfen. Was willſt du mich warnen? fragte er; bin ich<lb/>
denn auf böſen Wegen? Ich will ja nur bei meinem Weib und mei¬<lb/>
nen Kindern ſein!</p><lb/><p>Er lachte verächtlich. Iſt juſt die rechte Zeit zum Geſpenſterſehen,<lb/>ſagte er. Geſpenſter hätten jetzt gute Gelegenheit, mir Geſellſchaft zu<lb/>
leiſten. Nur herzu, wenn's beliebt.</p><lb/><p>Er warf ſich zu Boden und rang mit der Empörung ſeiner Pulſe<lb/>
und ſeiner Gedanken, bis endlich ein ſpäter Schlaf ſich des gehetzten<lb/>
Wildes erbarmte.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></body></text></TEI>
[320/0336]
ſamen Kraft arbeitete er ſich durch die Gebirgswälder hindurch,
und das Geſtrüpp krachte unter ſeinen Händen und Füßen, bis er
endlich, halb erſchöpft, abgelegene Pfade einzuſchlagen wagte, die ihn
in weiten Krümmungen ſeinem Ziele näher führten.
Der Tag hatte ſich tief geneigt, als er auf dieſen verborgenen
Umwegen, todtmüde vor Hunger und Anſtrengung, auf einer vor¬
ſpringenden Höhe herauskam und unter ſich in der Breite des
Thals die Stadt liegen ſah, von wo aus er ſo oft in die Gefangen¬
ſchaft geſendet worden war, und wo nun auch Chriſtine abermals ihr
Schickſal erwarten ſollte. Ihr freundlicher Anblick ſtimmte ſchlecht zu
der Unglücksbedeutung, die ſie für ihn und die Genoſſin ſeines irren
Lebens angenommen hatte. Seine Blicke, von Erſchöpfung verſchleiert,
ſchweiften unſtät in die dämmernde Landſchaft hinaus. Plötzlich tau¬
melte er zurück, von einem Schreck ergriffen, der ihm das Blut in
den Adern ſtocken machte. Was war es, das ihm vor die Augen ge¬
treten war? Es ſah aus wie der Schatten eines aufgehobenen Rieſen¬
fingers. Mit einer wilden Aufraffung kämpfte er den Schrecken nie¬
der, rieb ſich die Augen aus und ſagte laut und zornig, während ihm
doch die Stimme bebte, vor ſich hin: Dummes Zeug, es iſt ja nichts
als der Staufen.
Der wunderſchlanke Berg war ihm einen Augenblick zum Schreckgeſpenſt
geworden. Auch mit ihm glaubte er in ſeinem anklägeriſchen Wahne
rechten zu dürfen. Was willſt du mich warnen? fragte er; bin ich
denn auf böſen Wegen? Ich will ja nur bei meinem Weib und mei¬
nen Kindern ſein!
Er lachte verächtlich. Iſt juſt die rechte Zeit zum Geſpenſterſehen,
ſagte er. Geſpenſter hätten jetzt gute Gelegenheit, mir Geſellſchaft zu
leiſten. Nur herzu, wenn's beliebt.
Er warf ſich zu Boden und rang mit der Empörung ſeiner Pulſe
und ſeiner Gedanken, bis endlich ein ſpäter Schlaf ſich des gehetzten
Wildes erbarmte.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/336>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.