Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

wieder an den äußersten Häusern erscheinen: er sah hin, aber er hatte
die Zeit zu kurz gemessen und sich verrechnet. Er legte sich wieder zu¬
rück und wartete geduldig; er hatte ja das Warten gelernt; aber end¬
lich däuchte es ihm doch ziemlich lang. Er sah wieder hin: sie kam
noch nicht. Nun zählte er bis auf eine bestimmte Zahl, die er sich
vornahm, und da er zu schnell gezählt zu haben glaubte, so wieder¬
holte er dieses Geduldspiel ein paarmal, jedoch umsonst. Endlich zählte
er ununterbrochen und langsam, wie er meinte, bis auf Hundert fort:
Christine kam nicht. Jetzt begann es ihm unheimlich zu werden. Er
stand auf und ging sachte auf das Dorf zu. Schon war er in die
Nähe desselben gelangt, als er eine beträchtliche Menge bewaffneter
Mannschaft, welche bei der Unsicherheit der Zeit in jeder Gemeinde
schnell auf den Beinen war, herausdringen sah. Die einen waren mit
Flinten, die andern mit Spießen oder Prügeln versehen, und ihre
Blicke ließen ihn nicht im Zweifel, wem dieser Ausfall gelte. Während
sie sich rasch gegen ihn in Bewegung setzten, entsprang er in das
Feld. Sie vertheilten sich und suchten ihn einzukreisen, aber seine
Schnellfüßigkeit hatte ihn bald in dem Dickicht des Waldes am Teck¬
berge ihrer Verfolgung entzogen. Er schlug sich die Kreuz und Quere
durch das Holz, bis er von einer sichern Stelle auf den Boden, den
er hatte räumen müssen, hinunterspähen konnte. Nicht lange, so sah
er jenseits des Dorfes Bewaffnete, die ein Weib in der von ihm und
Christinen beabsichtigten Richtung in ihrer Mitte führten. Er konnte
nicht zweifeln, daß sie es sei, und konnte sich's ausmalen, wie der
Mann, dem sie begegnet, die Anzeige gemacht hatte, sie gehöre zu
einem verdächtigen Kerl, der sich nicht ins Dorf herein traue. Seinen
Namen hatte sie gewiß nicht angegeben, aber ohne Zweifel ihre Hei¬
math, und wurde jetzt bis nach Göppingen von einer Streifmann¬
schaft der andern übergeben.

Er knirschte, biß sich in die Finger, daß seine Zähne blutige
Spuren hinterließen, und blickte anklagend gen Himmel. Also keine
Ruh', keinen Frieden! rief er: wiederum hast du mich in die Wüste
geworfen! Dann machte er in Gedanken auch Christinen Vorwürfe,
daß sie so ungeschickt gewesen sei, sich fangen zu lassen. Endlich schüt¬
telte er sich unmuthig, als ob er alle Gemüthsbewegungen, mit welchen
er sich vergebens peinigte, zu Boden werfen wollte. Mit einer gewalt¬

wieder an den äußerſten Häuſern erſcheinen: er ſah hin, aber er hatte
die Zeit zu kurz gemeſſen und ſich verrechnet. Er legte ſich wieder zu¬
rück und wartete geduldig; er hatte ja das Warten gelernt; aber end¬
lich däuchte es ihm doch ziemlich lang. Er ſah wieder hin: ſie kam
noch nicht. Nun zählte er bis auf eine beſtimmte Zahl, die er ſich
vornahm, und da er zu ſchnell gezählt zu haben glaubte, ſo wieder¬
holte er dieſes Geduldſpiel ein paarmal, jedoch umſonſt. Endlich zählte
er ununterbrochen und langſam, wie er meinte, bis auf Hundert fort:
Chriſtine kam nicht. Jetzt begann es ihm unheimlich zu werden. Er
ſtand auf und ging ſachte auf das Dorf zu. Schon war er in die
Nähe deſſelben gelangt, als er eine beträchtliche Menge bewaffneter
Mannſchaft, welche bei der Unſicherheit der Zeit in jeder Gemeinde
ſchnell auf den Beinen war, herausdringen ſah. Die einen waren mit
Flinten, die andern mit Spießen oder Prügeln verſehen, und ihre
Blicke ließen ihn nicht im Zweifel, wem dieſer Ausfall gelte. Während
ſie ſich raſch gegen ihn in Bewegung ſetzten, entſprang er in das
Feld. Sie vertheilten ſich und ſuchten ihn einzukreiſen, aber ſeine
Schnellfüßigkeit hatte ihn bald in dem Dickicht des Waldes am Teck¬
berge ihrer Verfolgung entzogen. Er ſchlug ſich die Kreuz und Quere
durch das Holz, bis er von einer ſichern Stelle auf den Boden, den
er hatte räumen müſſen, hinunterſpähen konnte. Nicht lange, ſo ſah
er jenſeits des Dorfes Bewaffnete, die ein Weib in der von ihm und
Chriſtinen beabſichtigten Richtung in ihrer Mitte führten. Er konnte
nicht zweifeln, daß ſie es ſei, und konnte ſich's ausmalen, wie der
Mann, dem ſie begegnet, die Anzeige gemacht hatte, ſie gehöre zu
einem verdächtigen Kerl, der ſich nicht ins Dorf herein traue. Seinen
Namen hatte ſie gewiß nicht angegeben, aber ohne Zweifel ihre Hei¬
math, und wurde jetzt bis nach Göppingen von einer Streifmann¬
ſchaft der andern übergeben.

Er knirſchte, biß ſich in die Finger, daß ſeine Zähne blutige
Spuren hinterließen, und blickte anklagend gen Himmel. Alſo keine
Ruh', keinen Frieden! rief er: wiederum haſt du mich in die Wüſte
geworfen! Dann machte er in Gedanken auch Chriſtinen Vorwürfe,
daß ſie ſo ungeſchickt geweſen ſei, ſich fangen zu laſſen. Endlich ſchüt¬
telte er ſich unmuthig, als ob er alle Gemüthsbewegungen, mit welchen
er ſich vergebens peinigte, zu Boden werfen wollte. Mit einer gewalt¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0335" n="319"/>
wieder an den äußer&#x017F;ten Häu&#x017F;ern er&#x017F;cheinen: er &#x017F;ah hin, aber er hatte<lb/>
die Zeit zu kurz geme&#x017F;&#x017F;en und &#x017F;ich verrechnet. Er legte &#x017F;ich wieder zu¬<lb/>
rück und wartete geduldig; er hatte ja das Warten gelernt; aber end¬<lb/>
lich däuchte es ihm doch ziemlich lang. Er &#x017F;ah wieder hin: &#x017F;ie kam<lb/>
noch nicht. Nun zählte er bis auf eine be&#x017F;timmte Zahl, die er &#x017F;ich<lb/>
vornahm, und da er zu &#x017F;chnell gezählt zu haben glaubte, &#x017F;o wieder¬<lb/>
holte er die&#x017F;es Geduld&#x017F;piel ein paarmal, jedoch um&#x017F;on&#x017F;t. Endlich zählte<lb/>
er ununterbrochen und lang&#x017F;am, wie er meinte, bis auf Hundert fort:<lb/>
Chri&#x017F;tine kam nicht. Jetzt begann es ihm unheimlich zu werden. Er<lb/>
&#x017F;tand auf und ging &#x017F;achte auf das Dorf zu. Schon war er in die<lb/>
Nähe de&#x017F;&#x017F;elben gelangt, als er eine beträchtliche Menge bewaffneter<lb/>
Mann&#x017F;chaft, welche bei der Un&#x017F;icherheit der Zeit in jeder Gemeinde<lb/>
&#x017F;chnell auf den Beinen war, herausdringen &#x017F;ah. Die einen waren mit<lb/>
Flinten, die andern mit Spießen oder Prügeln ver&#x017F;ehen, und ihre<lb/>
Blicke ließen ihn nicht im Zweifel, wem die&#x017F;er Ausfall gelte. Während<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich ra&#x017F;ch gegen ihn in Bewegung &#x017F;etzten, ent&#x017F;prang er in das<lb/>
Feld. Sie vertheilten &#x017F;ich und &#x017F;uchten ihn einzukrei&#x017F;en, aber &#x017F;eine<lb/>
Schnellfüßigkeit hatte ihn bald in dem Dickicht des Waldes am Teck¬<lb/>
berge ihrer Verfolgung entzogen. Er &#x017F;chlug &#x017F;ich die Kreuz und Quere<lb/>
durch das Holz, bis er von einer &#x017F;ichern Stelle auf den Boden, den<lb/>
er hatte räumen mü&#x017F;&#x017F;en, hinunter&#x017F;pähen konnte. Nicht lange, &#x017F;o &#x017F;ah<lb/>
er jen&#x017F;eits des Dorfes Bewaffnete, die ein Weib in der von ihm und<lb/>
Chri&#x017F;tinen beab&#x017F;ichtigten Richtung in ihrer Mitte führten. Er konnte<lb/>
nicht zweifeln, daß &#x017F;ie es &#x017F;ei, und konnte &#x017F;ich's ausmalen, wie der<lb/>
Mann, dem &#x017F;ie begegnet, die Anzeige gemacht hatte, &#x017F;ie gehöre zu<lb/>
einem verdächtigen Kerl, der &#x017F;ich nicht ins Dorf herein traue. Seinen<lb/>
Namen hatte &#x017F;ie gewiß nicht angegeben, aber ohne Zweifel ihre Hei¬<lb/>
math, und wurde jetzt bis nach Göppingen von einer Streifmann¬<lb/>
&#x017F;chaft der andern übergeben.</p><lb/>
        <p>Er knir&#x017F;chte, biß &#x017F;ich in die Finger, daß &#x017F;eine Zähne blutige<lb/>
Spuren hinterließen, und blickte anklagend gen Himmel. Al&#x017F;o keine<lb/>
Ruh', keinen Frieden! rief er: wiederum ha&#x017F;t du mich in die Wü&#x017F;te<lb/>
geworfen! Dann machte er in Gedanken auch Chri&#x017F;tinen Vorwürfe,<lb/>
daß &#x017F;ie &#x017F;o unge&#x017F;chickt gewe&#x017F;en &#x017F;ei, &#x017F;ich fangen zu la&#x017F;&#x017F;en. Endlich &#x017F;chüt¬<lb/>
telte er &#x017F;ich unmuthig, als ob er alle Gemüthsbewegungen, mit welchen<lb/>
er &#x017F;ich vergebens peinigte, zu Boden werfen wollte. Mit einer gewalt¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[319/0335] wieder an den äußerſten Häuſern erſcheinen: er ſah hin, aber er hatte die Zeit zu kurz gemeſſen und ſich verrechnet. Er legte ſich wieder zu¬ rück und wartete geduldig; er hatte ja das Warten gelernt; aber end¬ lich däuchte es ihm doch ziemlich lang. Er ſah wieder hin: ſie kam noch nicht. Nun zählte er bis auf eine beſtimmte Zahl, die er ſich vornahm, und da er zu ſchnell gezählt zu haben glaubte, ſo wieder¬ holte er dieſes Geduldſpiel ein paarmal, jedoch umſonſt. Endlich zählte er ununterbrochen und langſam, wie er meinte, bis auf Hundert fort: Chriſtine kam nicht. Jetzt begann es ihm unheimlich zu werden. Er ſtand auf und ging ſachte auf das Dorf zu. Schon war er in die Nähe deſſelben gelangt, als er eine beträchtliche Menge bewaffneter Mannſchaft, welche bei der Unſicherheit der Zeit in jeder Gemeinde ſchnell auf den Beinen war, herausdringen ſah. Die einen waren mit Flinten, die andern mit Spießen oder Prügeln verſehen, und ihre Blicke ließen ihn nicht im Zweifel, wem dieſer Ausfall gelte. Während ſie ſich raſch gegen ihn in Bewegung ſetzten, entſprang er in das Feld. Sie vertheilten ſich und ſuchten ihn einzukreiſen, aber ſeine Schnellfüßigkeit hatte ihn bald in dem Dickicht des Waldes am Teck¬ berge ihrer Verfolgung entzogen. Er ſchlug ſich die Kreuz und Quere durch das Holz, bis er von einer ſichern Stelle auf den Boden, den er hatte räumen müſſen, hinunterſpähen konnte. Nicht lange, ſo ſah er jenſeits des Dorfes Bewaffnete, die ein Weib in der von ihm und Chriſtinen beabſichtigten Richtung in ihrer Mitte führten. Er konnte nicht zweifeln, daß ſie es ſei, und konnte ſich's ausmalen, wie der Mann, dem ſie begegnet, die Anzeige gemacht hatte, ſie gehöre zu einem verdächtigen Kerl, der ſich nicht ins Dorf herein traue. Seinen Namen hatte ſie gewiß nicht angegeben, aber ohne Zweifel ihre Hei¬ math, und wurde jetzt bis nach Göppingen von einer Streifmann¬ ſchaft der andern übergeben. Er knirſchte, biß ſich in die Finger, daß ſeine Zähne blutige Spuren hinterließen, und blickte anklagend gen Himmel. Alſo keine Ruh', keinen Frieden! rief er: wiederum haſt du mich in die Wüſte geworfen! Dann machte er in Gedanken auch Chriſtinen Vorwürfe, daß ſie ſo ungeſchickt geweſen ſei, ſich fangen zu laſſen. Endlich ſchüt¬ telte er ſich unmuthig, als ob er alle Gemüthsbewegungen, mit welchen er ſich vergebens peinigte, zu Boden werfen wollte. Mit einer gewalt¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/335
Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/335>, abgerufen am 21.11.2024.